2016

anhäufungen von glas

Feldkircher Lyrikpreis 2016

Erika Kronabitter (Hg.), Lyrik der Gegenwart 64, Edition Art Science, St. Wolfgang (ISBN 978-3-902864-65-9)

an den rändern der haut atme ich früheres
leben das ich schon fast vergessen hatte
zwischen den ersten falten spielen kinder
verstecken und fangen und wie es ist
wenn die schwimmbäder schließen
und die nachmittage vertrödelt werden
mit kastaniensammeln
auch dich atme ich
in einem anderen
leben

spielen wir verstecken und fangen
die schwimmbäder sind lange schon geschlossen
der kastanienverkäufer zählt seine einnahmen
und wir irren
durch die nächte wie nomaden

im licht der straßenlaterne
verzeihen wir dem winter den schnee

 

b

fließen stimmen den abhang der zeit hinab
drängt gedankenschutt zu tal
im netz der landschaft
verfangen sich die letzten flüssigkristalle
einer früheren epoche
geh ich den weg der monde und gestirne
sind sanduhren gefüllt mit falterstaub
erinnerungen einsamkeiten
schwarze löcher
bleibst du bleibe ich
stehen
staunen wir
fülle ich noch einmal die zeit mit moränen
rotkehlchen gesängen stille
stille
so groß wie zwei karseen im winter
so weit die arme reichen
die hände begreifen
deinen leib unter schnee
den amselleib
lass die haut blühen im frühling
mit den himmelsschlüsseln
buschwindrosen auf rabatten zwischen kieswegen
und mauern
zählen wir magnetisch im schwerefeld der liebe
21 22 23 schatten legen sich neben uns
durchschnitten von einem strom aus stimmen
können wir durch glas gehen
mit den zugvögeln kehren die raketen zurück
die flakgeschütze landminen kindersoldaten
in aussichtslosen stellungen an einem abhang
reicht weit der blick über nomadenzelte

mecklenburg

(gesang für ein polnisches fischgericht)
vater spricht von häuserbauen
auf der weide die stute galoppiert
über die straßen zieht salzluft
in bernsteinfarbenen fenstern spiegeln rosenblätter
schneefalter einen krieg zwei kriege
bist du fort gezogen und gestorben
dein gummibaum erinnert noch
deine schwestern sind alle tot deine brüder
nur einer hat überlebt

ruhe kehrt ein in die prallen ähren
des vaterlandes verräter ziehen weiter
nach osten süden im norden liegt ein meer

und wellen heben an zu einem gebet
für moränen geschiebemergel findlinge toteis
zittert deine hand zittert dein haar
im wind spielen zwei möwen
alles ist grau
und du spielst mundharmonie

die tage lehnen sich an ein scheunentor
das stroh ist geerntet auf elektrischen schlachtfeldern
eines junkers lippe befiehlt uns zu bleiben
bad doberan
das umland erwacht
an einem kühlen morgen stand jan in der tür
und wollte bleiben
auf ein leben und einen tod
klirrten die gläser

sprawozdanie roczne | jahresbericht

zima | winter
in der wetternachhersage
war von unruhen die rede
aufständische hatten die regierungsgebäude besetzt
wir gehen über den roten platz
deine hände graben nach glück

jesień | herbst
aus den wäldern drängen leoparden gegen die städte
sieben mal sieben meilen entfernt
bauen kinder flakstellungen
unten am fluss
versprachen wir uns liebe

lato | sommer
du bist tagverkünderin
deine stimme schenkt frieden
wo wir uns zum ersten mal küssten
grasen silberreiher im niemandsland
fallen schüsse in den schlaf der eulen

wiosna | frühling
tauben große zukunft
vor der küste seezeichen
für die flugzeugträger
wir glaubten an die rückkehr der seeschwalben
und die harmlosigkeit von landminen

kernschmelze (ich verlasse völlig)

in die umlaufbahnen von stimmen dringen monde ein
kunst stoff teilchen
elementar
teilchen
kreuz wort rätsel
silben
rätsel
wenn aber einmal die sprache
versagt

dringen monde in die umlaufbahnen von stimmen ein
ist deine haut so glatt
spielen wir tod und weben
licht ins leichentuch
bewegen sich unsere körper
in die umlaufbahnen von gedichten
sammeln wir falterstaub

falterstaub
sammeln

spinnennetzhaut
die linienführung deiner gedanken bildet schnittmusterbögen
muster bögen auf papier
cut

deine hände sind so rauh
wie grenzen auf landkarten zeichnen sich lebenslinien ab
in rissen und tiefen
loten wir sie aus

"und dann und wann ..." (fast ein rilke-gedicht)

Dichtungsring Nr. 48, 2016

Zeitschrift für Literatur, Dichtungsring e.V., Bonn (ISSN 0724-6412)

läuft im kopfkino jeden freitag
ein film über sterben
begleitete erst neulich ein kamerateam
eine gruppe elfenbeinwilderer
schlachtete einen elefantenbullen ab
schleppte sich das tier mit letzter kraft
in meinen vorgarten in der luxemburger straße
und verendete
liefen die nachbarn herbei
kam sogar eine polizeistreife
und natürlich auch presse
spielte das radio gerade wie zufällig
afrikanische musik
waka waka pata pata
schwiegen alle tiere der savanne
selbst hyänen und schakale
verneigten sich die affenbrotbäume
in manchen sommernächten
vor der weißen elefantenherde
auf einem karussell

 

döllacher elegie (tauern und tage)

Mein durstiges Wort gegen die flüchtige Liebe

Lyrikanthologie 2016, ELIF VERLAG, Nettetal (ISBN 978-3-9817509-7-3)

wir gehen über haut
andere vergnügungen gönnen wir uns
nicht mehr
dein gesicht liegt
eingebettet zwischen moränen

du schmiegst dich in die landschaft
grün feucht und kalt
blättert haut auf
wie rinde oder schiefer

das moos auf den steinen
könnte von uns sein
erinnerung an ein tal
einen felssturz damals
und stimmen aus dem gebirge

wir gehen an den fluss
haut an haut
und tauschen worte gegen zitronenfalter
unsere körper fließen mit den silben
durchsichtig wie flügel im licht

 

paris

18ter november deine haut
bereitet sich auf den winter vor
letzte woche sprachen dichter über sprache
eichelhäher
tausendgüldenkraut
giersch
gestern wurden freundschaftsspiele im fußball abgesagt
heute beobachtest du eine gruppe kinder beim schulgang
spiegelt sich der schneehimmel in einer pfütze
wir atmen neonlicht
ich beobachte deine schulterblätter
und meine hand legt sich auf deine halb entblößte brust
die stadt der liebe schließt ihre tore

rückzugsgebiete

inskriptionen No. 8 / 2016 - denkspurrillen

Viktor Kalinke & Cecilie Larsen (Hg.), Erata / Leipziger Literaturverlag (ISBN 978-3-86660-215-1)

mit fischen belaubt
treiben häuser das tal hinab
spielen quallen verstecken
und fangen in unserer straße
legen sich schneegedichte
über die berge

rehe gingen voraus
und bauten nester
zwischen korallen
bäumen

blieb zeit stehen
lehnte sich
eine wegwarte
an deine schulter

wirft der wind wellen
über die baumkronen
und stimmen hinterher
herrscht lange stille

 

undulation

1
großes herzecho an der wand
hängen gemälde von bruegel
du spielst violine

2
wir falten blumen zu gedichten
und verfüttern sie an die ungläubigen
hautflügler

3
adonisfalter wollen wir sein
auf einem röntgenbild
mit lungenflügeln

4
du atmest groben sand
mit den flugzeugen
ziehen stare übers gebirge

troja

über die gefalteten dächer
wirft der krieg girlanden
ayhan schläft seit tagen
ziehen schillerfalter ins gebirge
liegen tarnnetze über karawansereien
und in den ebenen flugabwehrraketen
ayhan geht im traum
nackt zwischen soldaten
schläft der halbmond
hören schmetterlinge
in den bergen flüsternde stimmen

drängen truppen
von allen seiten gegen die stadt
auch vom meer
täuschen weiße segel frieden vor
rudert ayhan ihnen entgegen
in simulationen
fällt soldaten das töten leicht
im häuserkampf richten sich die gefalteten dächer
noch einmal auf
später werden die dichter des landes
die schönheit der berge besingen
doch die schillerfalter kehren nicht zurück

paris

18ter november deine haut
bereitet sich auf den winter vor
letzte woche sprachen dichter über sprache
eichelhäher
tausendgüldenkraut
giersch
gestern wurden freundschaftsspiele im fußball abgesagt
heute beobachtest du eine gruppe kinder beim schulgang
spiegelt sich der schneehimmel in einer pfütze
wir atmen neonlicht
ich beobachte deine schulterblätter
und meine hand legt sich auf deine halb entblößte brust
die stadt der liebe schließt ihre tore

jon.

manchmal ahme ich das ticken einer uhr nach
um die zeit zu vergessen
in grönland schlachtete ich einen wal
und später schrieb ich ein gedicht darüber
in einem straßencafé in paris
am ende des boulevards
senkt sich die sonne
in den laufenden verkehr

osmose der zeit

die türen sind in die schlösser gefallen
selbst erinnerungen vermögen nicht
sie wieder zu öffnen
die raubtiere haben sich schlafen gelegt
nur für diese eine nacht
in der du ausruhen kannst
über die felder gehen
und nach dem schnee schauen

inneneinrichtung

früher dachte ich
die spinne
in der ecke meines zimmers
wäre meine mutter
vater
verließ uns
als ich zwölf war

[schaumgeboren]

gestern machte vater das tafelsilber
bei an- und verkauf zu geld
und verschwand mit großvaters alter schreibmaschine
mutter weint seitdem ununterbrochen
schriftsteller wolle er werden
verriet er mir in der tür
bis zur straßenecke schaute ich ihm nach
wo eine frau in grünem mantel auf ihn wartete
und mit küssen empfing
in einem jahr werde ich
in die stadtbibliothek laufen
und nach vaters roman fragen

isostasie

wenn die heide steht
am dornbusch
und das wilde land schlägt
um sich wie dein herz

und flugzeuge wie falter
von dorf zu dorf ziehen
und die kopfweiden am bach
sich tief zur erde neigen

moränen und sanderflächen
so weit das auge reicht gletscher
nach ihrem rückzug
entstand ein vorland mit farben

und wurde erschlossen
mit straßen und an abgelegenen stellen
mit standstreifen und parkplätzen
um diese landschaft zu schauen

geblieben ist salz
in der tiefe
das herauf will
und sich hebt wie schwerelos

neu jahr

im versoffenen dunst eines januarmorgens schaukeln
fragen nach dem sinn
des lebens nach zukunft
und den kleinen tierchen die sich
in deinem kopf eingenistet haben
gute gedichte gehen anders
leiser
weicher
hängen ohren über stille
landschaften fallen ein
mit den augen einer luchsin
siehst du klar
unter die schneeflockenherde
gesellen sich zwei aurorafalter
verglühend in ihrem leichtsinn taumeln sie
dir über lippen und stirn

sommeryoga

in der sommerhitze gelingt askese
selten besser
sind da schon die schneetage
wenn die zehen
auch ohne versenkung
abfrieren

gott hart

HERZKNISTERN

Grundlegende und tiefgründige Gebrauchslyrik, Herausgeber: Civilserve GmbH, Steinfeld

wir liegen im leventin
saite an saite mit den gneisen
südalpin wirft
eine decke über uns

bergzerreißung herz
talzuschub und offene landschaft
das trogtal gefüllt
mit gletscher und moräne

insubrische linien ziehen durch grate
einem schürfling aus der unteren erdkruste gleich
führst du meine hand
und streichst glatt das gebirge

 

gravitationswellen

gestreckt und gestaucht die raumzeit
heute mittag beim essen
in meiner buchstabensuppe
zwei sich umkreisende F
mit dem löffel gerührt
und auseinander katapultiert
an den tellerrand
einstein hatte es schon vorhergesagt
und genau berechnet
die beiden F werde ich noch brauchen
für mein nächstes gedicht

gedichte

wir haben wolkengedichte
gelesen
bis der himmel
uns schwer wurde
später fiel regen aus ihnen
aber da hatten wir schon lange
umgeblättert
zu den sonnengedichten

hypozentrum

unsere stimmen sind in der schwebe
du sagst schlangen ich sage eulen
geräuschlos treiben sandkörner
in unseren augflüssigkeiten
liebe ist sehnsucht über den atlantik
und zurück weiter
durch den panamakanal den humboldtstrom
an subduktionszonen entlang
an ihnen liegen
die tiefsten erdbebenherde der welt
100 km und mehr
tiefer als liebe je sein kann
tiefer als liebe je sein kann

footing

dein leben hat keine 2-fache sicherheit
gegen grundbruch nicht einmal
teil sicherheiten
für eine vorübergehende oder dauernde situation
mach dir nichts vor baby
du kannst das versagen berechnen
für das fundament eines hauses
aber nicht für dein leben

retain

voll eingespannt und rückverankert
dein leben ausgesucht
das richtige profil
mit holz ausfachung
hand aufs herz baby
welche nachweise willst du noch
führen
für deine existenz

familien bande (orestie für anfänger)

Dichtungsring Nr. 47, 2016

Zeitschrift für Literatur, Dichtungsring e.V., Bonn (ISSN 0724-6412)

in meiner sprache lasse ich
zungen schnalzen nicht vorsagen
nicht vorsagen ich weiß
wie es weitergeht mit der muttersprache
und den persönlichen fürwörtern
er sie er sie er
sie
bilden familie ich weiß nicht
vorsagen
in meiner sprache lasse ich
lippen schnellen
du bist fortgezogen
in ein anderes sprechstück

 

paris

Levure Littéraire No. 12

AVRIL/MAI/JUIN 2016 (ISSN 2268-9915)

18ter november deine haut
bereitet sich auf den winter vor
letzte woche sprachen dichter über sprache
eichelhäher
tausendgüldenkraut
giersch
gestern wurden freundschaftsspiele im fußball abgesagt
heute beobachtest du eine gruppe kinder beim schulgang
spiegelt sich der schneehimmel in einer pfütze
wir atmen neonlicht
ich beobachte deine schulterblätter
und meine hand legt sich auf deine halb entblößte brust
die stadt der liebe schließt ihre tore

 

kernschmelze (ich verlasse völlig)

in die umlaufbahnen von stimmen dringen monde ein
kunst stoff teilchen
elementar
teilchen
kreuz wort rätsel
silben
rätsel
wenn aber einmal die sprache
versagt

dringen monde in die umlaufbahnen von stimmen ein
ist deine haut so glatt
spielen wir tod und weben
licht ins leichentuch
bewegen sich unsere körper
in die umlaufbahnen von gedichten
sammeln wir falterstaub

falterstaub
sammeln

spinnennetzhaut
die linienführung deiner gedanken bildet schnittmusterbögen
muster bögen auf papier
cut

deine hände sind so rauh
wie grenzen auf landkarten zeichnen sich lebenslinien ab
in rissen und tiefen
loten wir sie aus

adelante

Levure Littéraire No. 12

AVRIL/MAI/JUIN 2016 (ISSN 2268-9915)

auf einem marktplatz im süden
schweben stimmen ein wie tauben
sitzen leute in den cafés
und lesen gedichte
hinter der säule des brunnens
singt einer arbeiterlieder

der zeiger der kirchturmuhr
bleibt stehen
in der stunde des kampfes
ziehen worte durch die nacht
von straße zu straße
mit jungen und mädchen

mit den rufen des meeres
kehren möwen zurück
und barken mit toten darin

 

zeugenberg

Dau Missgeburt!

Die einschaltquoten des internets lassen heute zu wünschen übrig
wir bewegen uns in verschiedenen wohneinheiten und sozialen netzwerken
ein freund hat dich eingeladen sein leben mit gefällt mir zu markieren
am abend ziehen die hautflügler ins gegenlicht und warten auf die nacht
in der osmose der erinnerung wanderst du in kindheit
eine lange reihe, oh wie schön
der erste muss nach hinten gehn
engelchen flieg

und ich flog und war immer der erste
in den schwarzweißen fernsehbildern liegt der ché aufgebahrt
offiziere prüfen den leichnam
ein einfacher soldat mit gewehr und bauern bezeugen den tod
B-52 bomber legen napalmteppiche über den hô chi minh pfad
und in lengede holen sie einen bergmann nach dem anderen
in einer metallhülse durch ein bohrloch nach oben
beweismittel für kindheit
mutter kocht spaghetti vater verlässt das haus
wie konnten wir das vergessen haben und ein sommermärchen träumen
es gibt kein kollektives gedächtnis für den holocaust
nur eines für den gewinn oder verlust einer fußballweltmeisterschaft.

troja

OSTRAGEHEGE, Heft I/2016 - Nr. 79

Zeitschrift für Literatur und Kunst, Dresden (ISSN 0947-1286)

über die gefalteten dächer
wirft der krieg girlanden
ayhan schläft seit tagen
ziehen schillerfalter ins gebirge
liegen tarnnetze über karawansereien
und in den ebenen flugabwehrraketen
ayhan geht im traum
nackt zwischen soldaten
schläft der halbmond
hören schmetterlinge
flüsternde stimmen in den bergen

drängen truppen
von allen seiten gegen die stadt
auch vom meer
täuschen weiße segel frieden vor
rudert ayhan ihnen entgegen
in simulationen
fällt soldaten das töten leicht
im häuserkampf richten sich die gefalteten dächer
noch einmal auf
später werden die dichter des landes
die schönheit der berge besingen
doch die schillerfalter kehren nicht zurück

 

Veröffentlichungen in den vergangenen Jahren

2012 - sieben ausgewählte Gedichte

2011 - ein ausgewähltes Gedicht

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© 2019 Werner Weimar-Mazur