ich grabe nach den bleistiften homers. Gedichte.

[ich grabe nach den bleistiften homers]

ich grabe nach den bleistiften homers. Gedichte.

Athena-Verlag, Oberhausen, 2024, ISBN 9783745511765, mit einem Nachwort von Björn Hayer

ich grabe nach den bleistiften homers
er fiel vor troja
im gefolge odysseus
der führte seine asche in einem tonkrug mit
und verstreute sie nach der heimkehr
auf den feldern von ithaka
[manche behaupten er mischte die asche
unter das futter der schweine]

ich grabe nach den schreibheften homers
bisher stieß ich nur auf ein paar scherben
die trojer tranken vor der niederlage
aus den noch heilen gefäßen

ich grabe nach der stimme homers
es heißt er erhob sie einst gegen den wind
des krieges
bis man ihm die kehle durchschnitt

aber vielleicht war homer nie vor troja
und seine asche kam nie bis ithaka

[ich grabe unentwegt weiter]

 

die melancholie der langen tage

die leere wäscheleine vor dem küchenfenster
im wind verwehen kindheiten
der vater sammelt monde
und hängt sie an die wohnzimmerdecke
dass sie ein leben erleuchten
die mutter brät die aufgeschnittenen hefeklöße vom vortag an
hefeklöße mit blaubeeren

die jungferngasse am ersten mai
klaviermusik durchs offene fenster
eine straßenmusik eine wassermusik
die orla hinab bis in die saale

schräg fällt das licht der leuchtreklame ins zimmer
die träume blinken in vielen farben
buchstabensuppe
ich beginne zu lesen

der vater entwirft häuser
die er sich nie leisten kann
die nie gebaut werden
der lagerverwalter führt genau buch
die stenotypistin nimmt das diktat auf

manchmal wenn es ganz still ist im haus
höre ich das geklapper der schreibmaschine
oder der bleistift kratzt hieroglyphen aufs papier
graffiti aus einer anderen zeit
aus einem anderen leben
als ob hinter dem vorhang jemand atmet

"Waschzettel" (Verlagsinfo)

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Nachwort

von
Björn Hayer

Die Freiheit hinter dem Meer.

Der Schmerz gebiert Poesie, schon seit jeher. Hätte sich Daphne nicht dem Zugriff Apollos entzogen, indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandelte, würde sich heute niemand mehr an ihn als den Gott der Dichtung erinnern. Nie wäre der Mythos vom Poetae laureati mit dem entsprechenden Lorbeerkranz entstanden, hätte es nicht diese tragische Geschichte gegeben. Gleiches gilt für einen weiteren Schutzpatron der Lyrik, nämlich Orpheus. Ohne den Tod seiner Eurydike wäre sein elegischer Gesang auf immer vergessen. Werner Weimar-Mazur, der seine neuen Gedichte schon zu Beginn vor dem epischen Panorama von Odysseus und Homer aufspannt, weiß eben ganz genau um jene kulturgeschichtlich verbürgte, inspirierende Kraft von Trauer und Schwermut. Passend zur Leidensästhetik hat sein von diversen Symptomen geplagtes, lyrisches Ich natürlich sämtliche Medizinbücher studiert. Und so überrascht es kaum, dass die Poeme als solche nicht glattgebügelt erscheinen. Im Gegenteil: „ich lege mein neues portfolio mit dichtung auf / nur ungereimtheiten kein hochglanz“.

Wo sich im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr so richtig reimen will, haben wir es oft mit Stückwerk zu tun: „das jahr geht / in die brüche // in den scherben spielen kinder / sammeln glas splitter / allen unrat den ein leben / hinter lassen hat“. Zerbrochenes, Loses, Fetzenartiges findet sich in den Miniaturen. Mal trifft ein Textsubjekt unverhofft darauf, mal entsteht es etwa durch die Einwirkung eines Schlags auf Fensterscheiben. Dann „klirrt aus den splittern ein gedicht“, das erst gar nicht den Versuch unternimmt, einen falschen Trost in einer falschen Welt vorzugaukeln. Die Melancholie, jener dunkle Stern, von dem alle Energie dieses Bandes ausgeht, darf bleiben und für sich wirken. Wie schon in ihrer langen mit der Lyrik geteilten Geschichte begegnet sie uns auch bei Weimar-Mazur weniger in der depressiven Ausprägung als vielmehr als künstlerisches Movens. Sie versetzt das Ich in einen kreativen Zustand, animiert zum Schreiben. Sie transzendiert und erhebt uns über alle irdischen Schmerzen. Gleichzeitig führt ihr stimulierender Effekt zur Ordnung der Dinge. Ganz so wie in Albrecht Dürers berühmtem Kupferstich „Melencolia I“, wo mit Zirkel und Zahlenquadrat die verborgene Symmetrie eines verlorenen Paradieses wiederhergestellt werden sollte.

Im Falle des 1955 geborenen Gegenwartslyrikers mutet die Schwermut ferner wie eine ganz eigene Brille, wie ein besonders feiner Wahrnehmungsfilter an. Durch ihn reduziert sich das Dasein auf einen Augenblick der Stille und Meditation, wie etwa der Text „die melancholie der langen tage“ belegt. Zu sehen ist „die leere wäscheleine vor dem küchenfenster / im wind verwehen kindheiten“. Jene Wehmut steht nicht allein, auch weil das Gedicht in einem dialogischen Verhältnis steht. Es handelt sich nämlich um eine Anspielung auf Rolf Dieter Brinkmanns Melancholiegedicht „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“, das mit den Versen beginnt: „Ein Stück Draht, krumm / ausgespannt, zwischen zwei / kahlen Bäumen“. Die Ähnlichkeit ist offensichtlich und unterstreicht das Ansinnen, sich in die Genrelinie der Dichtung über Traurigkeit ohne Grund einzuschreiben.

Die Wege, die Weimar-Mazurs oft einsame Wanderer in ihrem Schatten der Traurigkeit einschlagen, muten vielschichtig an. Zum einen unternehmen sie (übrigens genauso wie ihr Autor) viele Reisen. Mitunter verschlägt es uns in dieser Sammlung nach Krakau, Litauen und Bolivien. Auch der Schwarzwald, die Heimat des Lyrikers ist allpräsent. Zum anderen werden Sprachen gemischt. In einem Text kommen neben Deutsch gleich noch italienische Wendungen und isländisches Lokalkolorit vor.

Jenseits des fernen, man muss ergänzen: horizontal gelegenen Ortes findet sich aber auch noch ein anderer, vertikaler, der ein Refugium vor dem Grauen im Leben bietet. Es geht um uneinsehbare und schützende Tiefen. Zu ihnen gelangt man nur, indem man sich in einer archäologischen Praxis übt: „ich grabe nach den bleistiften homers“, heißt es in einem Gedicht zu Beginn der Kompilation. Das Subjekt wendet sich also zurück, zur goldenen Ära der Antike. Helden gab es da noch, Geschichten, die von der Veränderbarkeit der Welt und ihrer Ordnung zeugen. Noch deutlicher fällt die Bewegung des Tiefgangs in einer Miniatur mit pränataler Sehnsucht aus. Sie bleibt allerdings unerfüllt. „[es gibt kein zurück] / in die gebärmutter / auch nicht in den schoß der erde“. Sobald wir geboren sind, konfrontiert uns das Dasein mit dem unausweichlichen Verfall.

Wir finden uns damit als Teil des natürlichen Ganzen wieder. Nachdem der Mensch bis Darwins Evolutionstheorie die Krone der Schöpfung darstellte, ist er im Anthropozän Akteur unter vielen. Antianthropozentrismus lautet daher das so akademisch klingende wie treffende Stichwort der Stunde. Dass wir allesamt koexistieren, statt übereinander zu herrschen, davon geben zahlreiche Texte Weimar-Mazurs Kunde. Vielleicht weil ihm seine Reisen immer wieder veranschaulicht haben, wie klein der einzelne Mensch unter dem kosmischen Gewölbe ist, vielleicht weil er als Geologe die lange währende Historie des Planeten exakt kennt. Umso mehr weist er uns auf ein genaues, empathisches Hinsehen auf Flora und Fauna hin:

„ich teile die welt in tiere und pflanzen
keine menschen
keine städte und dörfer
straßen und andere verkehrswege
keine häuser und zelte
keine naturschutzgebiete und weltnaturerbe
niemand beobachtet natur

in meinen augen ruhen sich schwarzstörche aus
sie sind müde
vom brüten auf bäumen
die schnäbel feuerlanzen“

Hier schreibt gewiss ein sich selbst gänzlich zurücknehmender Beobachter. Er überlässt die Bühne jenen, die über Jahrtausende unter der humanen Hegemonie leiden musste. Da sich diese Poesie aber nicht als dokumentarisch versteht, sondern immerzu mit einem hohen Grad an Bildlichkeit aufwartet, integriert sie die Tiere aber auch in eine künstlerische Gestaltung. Schnäbel erscheinen eben wie Feuerlanzen und regen somit zur Fantasie an. Beinah einer Kontemplation gleichkommend, „ruhen“ dabei die Augen auf den Störchen.

Ziel ist letztlich die Vereinigung, heißt es doch an anderer Stelle: „das breite gesicht der landschaft verschmilzt / mit meinem gesicht“. Was dabei entsteht? Diese Frage lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten, zumal in dieser Lyrik alles einem Fluss gleichkommt. Der Anblick der Natur ähnelt genauso einem Momentum wie die Poesie selbst. Denn was Weimar-Mazur ablehnt, ist nicht mehr und nicht weniger als die Routine:

und schreib es unbedingt auf
die gewohnheitsmäßigen dichter
sind nicht besser als die gewohnheitsmäßigen liebhaber
sie wiederholen sich
in landschaften und körperflüssigkeiten
das ist ein bisschen wie eine gebrauchsanweisung für mondsüchtige
oder wie die nebenwirkungen bei arzneimitteln
gegen ansteckende krankheiten

Entzauberung, nein Danke! Damit sich die Magie der Welt bewahrt, muss man wie der Autor das Unterwegssein lieben. Sowohl in kartografischer als auch in imaginärer Hinsicht. Im Rückblick sehen wir dann so manche verbrannte Erde, mithin die Asche all jener von uns gegangenen. Aber dann heben wir schon zu Neuem an, vor uns der Horizont, der sich schon so weit öffnet wie Himmelstore einer Händel-Arie:

und auf einmal singen wir
vom himmel über den kornfeldern

von den kosaken
die ihre mädchen verließen

falken flogen über die dörfer
und schlugen tauben

schöne hinter den bergen hinter dem meer
leuchtet die freiheit
und die augen der kinder spielen weiter
mit dem lange verschwundenen gras

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© 2024 Werner Weimar-Mazur