Anthologien + Zeitschriften
little rhody narragansett
für R. W. und R. W.
new england. ein fischgräten
muster aus gestorbenen.
stimmen. übers gras verweht
bis an den strand. felsen
felsige landschaft darunter.
leuchttürme weiße leuchtsegel
in der sonne. weiße häuser die leuchten.
see. wind.
peitscht den regen
aus.
und an land. den blick
nach draußen. fische treiben
in die bucht. eine lachsfrau
lacht mir zu. gibt
see. zeichen
die weltasche ist grau wie jede andere asche auch
für R. W.
knochen. arbeit. die hände voll
geschwielt. ich denke.
an rudersklaven auf einer galeere. kanonen.
futter. seegang geht und kommt wieder
das schiff schaukelt mit den wörtern.
auf die offene
hinaus.
knochen. bruch. kein körper
bleibt intakt. ich denke an
vogelskelette die vom himmel
fallen. im freien fall
fällt nur. steigt nie wieder
empor. bleibt
liegen.
auf dem wasser treibt.
geht nicht unter. und werden
immer weiter zermalmt. die ruder
schläge. werden sand. knochen
sand. werden. staub
asche. eine urne. suche ich
für die weltasche.
wieder fehlt ein stein am flussufer
für Jürgen Becker
jeder vers hat einen ort
eine stimme
mal new york
mal eine lichtung im wald
winter
kaum vogelstimmen kein insektensurren
und wer spricht aus dem schnee
den der wind treibt
dann blätterte ich weiter in den lamellen
DIE LYRIKKARAWANE 2024
"Sichere Texttransporte Sichere Gedichte“, Reimer Boy Eilers, Leander Sukov, Marco Sagurna, Sabine Göttel (Hrsg.), Kulturmaschinen Verlag, Ochsenfurt, (ISBN 978-3-96763-328-3)
für Marie T. Martin
den gartenblumen den wiesenblumen den waldblumen
als gäbe es natur
leben
den schritt barfuß
über gras oder erde
oder zumindest eine erinnerung daran
die wurmbauten sind verlassen
die mauslöcher
die fuchs und dachsbaue
geflutet mit leere
manchmal ertappe ich mich dabei wie ich grabe
mit den händen
den blicken
in der nacht sogar mit den träumen
als ließe sich abwesenheit nachholen
rückgängig machen
ungeschehen
wie ein zug im schachspiel
oder beim mensch ärgere dich nicht
die geräusche in den buchseiten
habe ich gehört
die stimmen im abgeperlten wasser von meiner haut
aber sie sprachen nicht
sie sangen
[dann blätterte ich weiter in den lamellen des lebens
und der pilze im verschatteten wald]
hunger. durst
Eyes breathe. Like open wounds.
(Rosmarie Waldrop)
ein glas voll augen. ich trinke
regenbogen
haut. esse
aug
apfel
[die berührungen an der nächsten straßenecke]
mit dem letzten schlag der kirchturmuhr
fiel der erste schnee
ich streckte die hände aus
und sammelte ihn
ich lebe am grund einer tönernen amphore
am grund irgendeines meeres
über das die schiffe fuhren
als es noch götter und helden gab
über die landschaft rücken wolkenschatten
einer über das feld von bauer tadeusz
ein anderer über den wald
wieder einer über die spitzen der hochhäuser am horizont
im fluss treiben boote steine und leichen
nicht alle erreichen das meer
ein paar bleiben
wieder ein paar verschwinden unter dem schnee
selbst die kirchturmuhr schlägt nicht mehr
wenn die stunden aufhören zu sein
die berührungen an der nächsten straßenecke
könnten von einem engel
ausgehend von meinem sternum
ich prüfe mein sternum
auf biegsamkeit und elastizität
denn es sei der sitz der seele
las ich einmal
doch ob ich überhaupt eine solche habe
konnte mir noch niemand sicher sagen
ich prüfte und prüfte immer wieder
ich weiß von biegsamen und elastischen zweigen und ästen der bäume
vielleicht sind sie die seele des waldes oder von landschaften
manchmal mache ich mir gedanken über flüsse und steine
auch sie
prüfe ich
fern von den geschichten die ich als kind las
mahle ich wörter und sprache zu mehl für ein brot
ein briefwechsel
in einem hundert jahre alten brief schreibt
eine polarforscherin an eine befreundete afrikaforscherin
liebste freundin stell dir vor
gefrorenes und kristallisiertes wasser
trägt mich
es ist wie ein gehen auf fels und watte
jeder schritt ist eine entdeckung
in einem hundert jahre alten brief antwortet
die afrikaforscherin
liebste freundin danke
jetzt kann ich die empfindungen eines elefanten
bei seinen wanderungen durch die savanne verstehen
dort draußen verlierst du den respekt vor technik
und einem leben in der stadt
hier endet der briefwechsel der freundinnen
die polar und afrikaforschung schlugen seitdem andere wege ein
gestützt auf bohrkerne über die eis und schneemächtigkeiten
den klimawandel während dieser zeit
und auf die vermessung der tiefe der elefanteneindrücke in den savannenboden
mit hilfe von gps auf die wanderungsrouten der tiere in feucht und trockenzeiten
die briefe lagen lange in meinem schreibtisch
vor einiger zeit habe ich sie schließlich verbrannt
[ich gehe nachts]
ich gehe nachts
in den föhrenwald hinaus
aus der stadt
den gedanken an sie
als befände ich mich auf weltflucht
oder suchte nur stille
die stimmen in mir nehme ich mit
und biete sie dem föhrenwald zum tausch
gegen eine zigarette
dabei bin ich nichtraucher
aber nachts im föhrenwald mit einer zigarette hinter dem ohr
es gibt kaum etwas schöneres beruhigenderes
wiederbegegnung
sie nahmen die hände mit
das gesicht ließen sie liegen
es lächelt noch
sie nahmen die hände mit
das gesicht ließen sie liegen
es lächelt noch
den körper trägt jetzt ein anderer
die stimme ist brüchig
wie das erste eis auf dem see
du gehst aus dem haus und ich bin tot
RHEIN, Zeitschrift für Worte, Bilder, Klang. Nr.25
Kunstgeflecht e.V., Neunkirchen-Seelscheidt, (ISBN 978-3-7693-1138-9)
… Ich
schrieb das schnell auf, bevor
der Moment in der verfluchten
dunstigen Abgestorbenheit Kölns
wieder erlosch.
(Rolf Dieter Brinkmann: Einen jener klassischen. in: Westwärts 1&2, Gedichte, Reinbek, 1975)
du gehst aus dem haus und ich bin tot
viel mehr
lässt sich über die kulturgeschichte des weltuntergangs
nicht sagen
deine hände halten die leeren einkaufstaschen
von gestern
wie in der schlange an der supermarktkasse
wird keine kontrolleurin den diebstahl entdecken
das kleine waldstück zwischen den schnellstraßen
verwildert zusehends
einst zogen dort antilopenherden durch
auf ihrem treck in die städte
konnten sie sich keine umwege leisten
zu groß wären die erschöpfung
und die chance für die verfolgenden jägerinnen gewesen
dein gang führt dich
in die abgelegenen hauseingänge
in den hinterhöfen
geld ist eine erfindung der betrüger des tauschhandels
wieder gehst du aus dem haus und ich bin noch tot
stimmbildung
Der Horizont ist bloß eine rhetorische Figur
Gedichte zu Caspar David Friedrich, herausgegeben von Anne Martin und Dirk Uwe Hansen, Reinecke & Voß, Leipzig, ISBN 978-3-942901-52-9
fmit kreide geschrieben
coccolithen kalkflagellaten
die weißen klippen von dover und rügen
schelfmeer in deinen worten
einzellige algen nannoplankton
auf einem bild caspar david friedrichs
romantik pur
und weiß die schrift auf einer schwarzen schiefertafel
ich spreche nach
du sprachst vor
die sonne fällt schon schräg ins meer
dass alle wellen lange schatten werfen
und andere stimmen steigen auf
aus einer tiefe
ein wolf ist auch dabei
auf einlass bettelnd
blaue vögel gleiten herab
auf meine hand
die ihnen futter reicht
jagdflugzeuge fliegen angriffe
zur invasion der insel
ich ziehe meine hand zurück
jemand singt
eine frauenstimme
joanne erzählt zur guitarre die ganze geschichte
[ich grabe nach den bleistiften homers]
Jahrbuch | Lyrik 2024, AG Literatur (Hg.)
Edition Art Science, 10/2024, 170 Seiten, St. Wolfgang, ISBN 978-3-903335-35-6
ich grabe nach den bleistiften homers
er fiel vor troja
im gefolge odysseus
der führte seine asche in einem tonkrug mit
und verstreute sie nach der heimkehr
auf den feldern von ithaka
[manche behaupten er mischte die asche
unter das futter der schweine]
ich grabe nach den schreibheften homers
bisher stieß ich nur auf ein paar scherben
die trojer tranken vor der niederlage
aus den noch heilen gefäßen
ich grabe nach der stimme homers
es heißt er erhob sie einst gegen den wind
des krieges
bis man ihm die kehle durchschnitt
aber vielleicht war homer nie vor troja
und seine asche kam nie bis ithaka
[ich grabe unentwegt weiter]
[als jemand die fenster geschlossen]
als jemand die fenster geschlossen
und die stadt ausgesperrt hatte
und ein eisregen brach herein
und in der steppe irrten herdentiere umher
und die sprache wechselt von einem loop
in verse
treibt schnee
über brachland
bis an die häuserwände
bis an die felsen am gebirgsrand
Marzanna träumt einen traum von grünland
laubtagen mit lichtdunst wie honigmilch
überschall zieht heran
und mit einem knall
wasser rinnt eine erdfurche entlang
so ähnlich könnte sintflut beginnen
ich sitze am tisch und schaue nach draußen
da ist nichts
und das buch das ich lese existiert
nur in meinem kopf
eine geschichte über nomadentum
großstadtindianer und robbenfangende inuit
sonaten erklingen
sonette schwingen
maschinengeheul in einer fabrikhalle
heute keine sirene kein schichtende und wechsel
malochen malochen ma-
‑lochen
schweiß rinnt in die kuhle an deinem schlüsselbein
salzhaare fallen über die schultern
haut an haut
klebt die liebe
begattungen
zungenspiel
und jemand hatte die fenster wieder geöffnet
und das drinnen floss nach draußen
und das draußen nach drinnen
alles!
die stadt die herden der steppe schnee und eis
laublicht honigmilch wasser und schweiß
ultraschall
und deine stimme schwingt
wie eine saite
von meinem bogen der nacht gestrichen
vier gedichte für eine stimme
.
.
die erde wird wie ein tier atmen
der nachtregen fällt
flieht
in die berge die wälder
.
in einer kathedrale aus erinnerung
ich klappe die welt zusammen
wie die flügel eines altars
ich habe schreckliches gesehen
.
ich glaube an den fortschritt der menschlichen existenz
die lichter wachsen an
und schwellen ab
wie die stimmen der engel
die nicht fliegen können
.
die idee einer zukunft
die vögel fallen
von einem unsichtbaren himmel
gestern war er von einem stummen blau
mit einem gesang den niemand gehört hat
nur die engel
und die für den schrei eines gottes
empfindsamen menschen
& ostwärts 2
die steine schmecken nach salz
salzsteine in einer gegenbewegung
zur grenze
und zittergras in den adern
[an kaltes eisen gefasst]
Poesiealbum neu „Von Sinnen“, 1/2024
Zeitschrift der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. in der Edition kunst & dichtung, Leipzig, (ISSN 2193-9683)
an kaltes eisen gefasst
und die stadt umarmt
wie sie weinte
in den fluss gerufen
dass er dem meer von mir berichte
den fischen zugeflüstert
sie mögen nicht sterben
kies kies und nochmals kies
im beton der mauer
fragend einen baum angeschaut
wo sein zuhause sei
und immer wieder die stadt umarmt
wie sie weinte
und weiter an kaltes eisen gefasst
nzůmbe *
wir haben das totenhemd gewechselt
unser körper ist
bleich und durchsichtig geblieben
schmutzig liegt er auf alter moräne
hat nur noch zehrgebiet
kein nährgebiet verleiht ihm neue kraft
manchmal blutet er
aus seinen wundmalen
muttermale
die sich verändert haben
sind zu bösartigen schwarzen geschwulsten geworden
jetzt streuen sie
metastasieren im ganzen körper
wir haben das totenhemd gewechselt
und immer noch kein grab gefunden
________________________
* Bantusprache Kimbundu in Nord-Angola, Bedeutung "Totengeist". Im Kreolischen in Haiti wurde es zu zonbi, unserem Wort Zombie.
ali
vor ein paar tagen traf ich ali
er ist eine klasse über mir
und stört sich nicht daran
dass ich kein kopftuch trage
und kurze haare habe
wir gingen ein stück an der traun entlang
und unterhielten uns gut
sein vater schlägt ihn manchmal noch
in zwei jahren macht ali abitur
danach will er literatur studieren
die lyrik interessiere ihn am meisten
er schreibe selbst gedichte sagte er
ali fragte mich
ob wir uns wieder treffen könnten
einen ausflug zum kloster seeon machen
ich liebe den frieden und die stille des ortes
oder auf die kampenwand wandern
ich interessiere mich auch sehr für literatur und lyrik
aber vielleicht studiere ich doch lieber umweltwissenschaften
sich mit ali zu unterhalten ist schön
aber ich glaube nicht dass er mein typ ist
koniec
uljana fiel mir um den hals und küsste
mich in fließendem polnisch ab und zu
gehen wir noch zusammen einen wodka
trinken bei andrzej um die ecke jacek
ist dort ewa jan und małgorzata kommen
meist später trinken wir über krakau nach
und spätestens bei morskie oko fangen wir an
zu heulen der winter war sehr kalt dort
das meerauge zugefroren mit einer dicken eisschicht
dann lesen wir uns eigene gedichte vor
und im bernsteinfarbenen kerzenlicht fangen
wir wieder an zu heulen alle wollen wir
nach paris
nur weg hier
aber am ende wollen wir
bleiben
wo sonst kann man so viel
heulen
[gestern atmete ich schnee]
gestern atmete ich schnee
heute das benzin im hof
und am abend deine haut
ein paar häuser weiter starb Juri
er brach schotter im steinbruch
für den straßenbau alles staubte
im sommer spielten wir kinder
die abenteuer von piraten nach
über die wir gelesen oder geschichten gehört hatten
Juri war unser anführer
du hattest nur augen für ihn
am nachmittag schwammen wir gemeinsam im see
ein lastwagen ratterte durchs dorf
eine brigade suchte deserteure
auf dem hügel wiegten sich die bäume im wind
deine haut riecht noch immer nach dem versteck der piraten
zu den stätten des geistes des gehens u. des todes
ich kam zu einer schädelstätte
dort lagen gedanken aufgebahrt
auf erdkrumen und gras
ruhte ich aus
trank vom mitgeführten wein
brach brot und tränkte es
in öl und aß davon
später
zog ich weiter und kam
an ein beinhaus
dort lagen bewegungen aufgebahrt
die schenkelknochen langbeiniger läufer
denen ich lange zeit gefolgt war
die mir vorausgegangen waren
den weg zu weisen
weiter
setzte ich mich auf ein hockergrab
knabberte pistazien mit den toten
spuckte mit ihnen um die wette
kirschkerne
tristezza
hochhäuser sind traurige gestalten
schutzlos
dem licht und dem wind ausgesetzt
fristen sie ein dasein
in ständiger angst
.
hämatologie
die blutung weitete sich aus
irgendetwas stimmte nicht
mit den thrombozyten der gerinnung
europa verblutete innerlich
die hämatologen und politiker waren machtlos
dialoge
sie antwortete
wann
ich sagte
bald
sie fragte
wozu
ich sagte
nichts
dann fuhr wind in die worte
vertrieb sie
bis weit hinaus aufs meer
hinter die horizontlinie
wo wolken und wasser ineinanderfließen
und stimmen verschwinden
[mutters hände]
mutters hände
zerteilten den fisch
stachen ihm die augen aus
dieselben hände die mir durchs haar fuhren
vaters mund im hintergrund
ahmte das fischsprechen nach