Anthologien + Zeitschriften
le quattro stagioni
der herbst heißt es
sei die schönste jahreszeit
andere sagen der frühling
im sommer neigen sich die bäume zu den wassersportlern
und der schnee im winter ist das allerbeste
weil er taut
wieder verschwindet
leise
wie er gekommen ist
weimar, 14. mai 2018, 21.52 uhr
entlasse ich in den abend
eine drohne
eine saxophonsequenz
ein vielversiges epos
über die spannweite der sterne
die vom nahen bergrücken
auf die stadt nieder schauen
war dominique hier
und vor ihm david judith küssend
zum abschied in die nacht
klapperten hufe über das kopfsteinpflaster
knarrten die stahlbänder der wagenräder
um genau vier uhr in der früh
schrie ein pfau
schrie
sang
sang
eine drohne ein saxophon
ein vielversiges epos
in die nacht
troja
über die gefalteten dächer
wirft der krieg girlanden
ayhan schläft seit tagen
ziehen schillerfalter ins gebirge
liegen tarnnetze über karawansereien
und in den ebenen flugabwehrraketen
ayhan geht im traum
nackt zwischen soldaten
schläft der halbmond
hören schmetterlinge
flüsternde stimmen in den bergen
drängen truppen
von allen seiten gegen die stadt
auch vom meer
täuschen weiße segel frieden vor
rudert ayhan ihnen entgegen
in simulationen
fällt soldaten das töten leicht
im häuserkampf richten sich die gefalteten dächer
noch einmal auf
später werden die dichter des landes
die schönheit der berge besingen
doch die schillerfalter kehren nicht zurück
die wanderbewegungen des todes
stimmen wandern
und die tiere ihnen voraus
die auf einer bahre getragene
stimme des todes
durch das tor betrat sie die stadt
ging betteln in den straßen
bis die menschen ihr gaben
alles geld allen reichtum alles glück der welt
aus dem land der löwen
zogen löwenmenschen nach norden
in kalksteinhöhlen in einem kalten land
zu den bären und tigern
den rehen hirschen und eisvögeln
jagten sie den schnee
in die weiche haut des todes
sinken stimmen
erst kommen die versteppungen
dann die verwüstungen
die spielenden augen der kinder
das gras war schon fort
das zittern in der stimme kommt
von den einschlägen
erklärt er uns
in der stadt wächst die angst
fluchtgedanken nur wenige
wollen bleiben und sterben
es ist ein bisschen wie früher
im winterkrieg
nur dass der schnee langsam taut
die angreifer einmal brüder und schwestern waren
der wald bietet keine
verstecke mehr
sagt er uns und wendet den blick
zu boden
der einmal muttererde hieß
und alle ernährte
wir könnten singen schlägt er uns vor
aber das hilft nicht gegen sterben
und auf einmal singen wir
vom himmel über den kornfeldern
von den kosaken
die ihre mädchen verließen
falken flogen über die dörfer
und schlugen tauben
schöne hinter den bergen hinter dem meer
leuchtet die freiheit
und die augen der kinder spielen weiter
mit dem lange verschwundenen gras
die augen des despoten
gespiegelte landschaften gespiegelte städte
echoräume für die stimmen
und die toten
eine liste von namen
keine gräber keine grabsteine
und die augen haben arme
hand
langer
an die verlassenen strände
spült sein letzter speichel
den leichengeruch der geschichte
den entkommenen
bleibt einzig die atemlosigkeit
Kyjiw
das letzte grün des abendhimmels durchschritt
den schallkegel des sirenengeheuls
auf den straßen die menschen rannten
hinterher
war nur noch stille
und stimmen aus dem off hoben an
zu grünen gesängen
bis weit in die nacht
schüsse raketeneinschläge in die vielen zuhause
erst am morgen erstarben die stimmen
ares persönlich war vorgerückt
zu wüten
der krieg ist der vater aller dinge heißt es
und er zeugte kinder mit hässlichen antlitzen
die den fratzen von despoten glichen
die stadt war ausgelaufen
ihr blut rann durch die straßen
schwappte über die ränder
durch die tore hinaus auf die felder
legte sich ein meer aus schatten übers land
Ще не вмерла Україна
noch ist die Ukraine nicht gestorben
ich gehe allein über eine straße aus zeit
lemuren drehen die sanduhren um
welt verrieselt
Ukrajina
das buch des lebens ist leer geschrieben
jetzt beginnt das buch des todes
wir haben die traurigkeit erkannt
sie kam nicht in einem gedicht
wir haben die trauer erkannt
sie kam in einem krieg
gegen ende des winters
es wollte bald frühling werden
das eis der flüsse und auf den bergen
begann zu schmelzen
die bären hielten noch winterschlaf
nur einer erwachte vor der zeit
begann vor der zeit sich neuen speck anzufressen
fraß menschen
er fand sie im südlichen land gegen das meer
er wütete in den städten
und auf dem flachen land
und für die traurigkeit und die trauer
fehlten auf einmal die worte
es gab keine gedichte mehr
kein lachen
spiegelte sich im klaren schmelzwasser der bäche
ich höre jetzt auf zu schreiben
höre auf zu singen
beginne
zu schreiben
zu singen
die farben des korns und des himmels verblassen
nicht
wir hatten worte als währung
und bezahlten mit versen
unsere gärten blühten und trugen reichlich früchte
auf der schwarzen erde
wuchs etwas wie vertrauen
die züge und busse holten die menschen
fort vom flachen land in die städte
weit weg in fremde flache länder
wo sie gemüse ernteten für ihre neuen herren
die worte und verse verschwanden für geld
singe Halyna singe noch einmal
das lied der sümpfe Polissja
der wilden pferde die am flussufer grasten
auf den hügeln wiegte sich das licht im wind
eines tages
werden die panzer verschwunden sein
die raketen verstummt
der schutt in den städten fortgeräumt
und neue leben wieder aufgebaut
bis dahin füllen wir unsere leeren kammern
mit tränen
alle flüsse fließen in ein schwarzes meer
und mit ihnen unsere schwarze erde
.
(geschrieben vom 24. Februar bis zum 2. März 2022)
erst kommen die versteppungen
dann die verwüstungen
die spielenden augen der kinder
das gras war schon fort
das zittern in der stimme kommt
von den einschlägen
erklärt er uns
in der stadt wächst die angst
fluchtgedanken nur wenige
wollen bleiben und sterben
es ist ein bisschen wie früher
im winterkrieg
nur dass der schnee langsam taut
die angreifer einmal brüder und schwestern waren
der wald bietet keine
verstecke mehr
sagt er uns und wendet den blick
zu boden
der einmal muttererde hieß
und alle ernährte
wir könnten singen schlägt er uns vor
aber das hilft nicht gegen sterben
und auf einmal singen wir
vom himmel über den kornfeldern
von den kosaken
die ihre mädchen verließen
falken flogen über die dörfer
und schlugen tauben
schöne hinter den bergen hinter dem meer
leuchtet die freiheit
und die augen der kinder spielen weiter
mit dem lange verschwundenen gras
hämatologie
die blutung weitete sich aus
irgendetwas stimmte nicht
mit den thrombozyten der gerinnung
europa verblutete innerlich
die hämatologen und politiker waren machtlos