Heimwehe. Gesänge.
isenheim
wir richteten uns ein im bauch eines wales
und hofften er würde uns wieder ausspeien
nach seinen tauchgängen im marianengraben
seinen flügen über wellenberge
hieltest du licht in den händen
antworteten dir stimmen und erinnerungen
hörten wir die nächte zu zählen auf
die jahre
das unglück
die landschnecken befuhren alle weltmeere
hielten auf inseln landgänge ab
und erträumten sich odysseen
am schönsten waren die mädchen von gozo
selbst der held wusste das und blieb
viele jahre während schafe und ziegen
über die dornbüsche zogen
ich trug mir schieferöl auf
das durch die haut floss schweflig teerartig
in einigen platten fand man ichthyosaurier
die mit ihrem aussterben um die wette schwammen
posidonienschiefer
poseidonschiefer
pyritisiert war das neptungras
ein wandschmuck über dem kaminsims
ich las dein leben und wunderte mich
dass ich in ihm nicht vorkam
du hättest mich vorwarnen müssen
oder wenigstens dem specht im garten
nicht das klopfen verbieten dürfen
unten am see hatte sich ein boot losgemacht
und trieb über die wasserfläche
spiegelungen eines früheren lebens
begleiteten es in konzentrischen kreisen
mit baugruben machte mir keiner so leicht etwas vor
am abend schlich ich mich in den wald
und legte fallen aus
du riefst an um mir zu sagen
dass dein vater gestorben war
und du allein sein wolltest
ich reiste in einem falter
ich war puppe raupe
ein gesponnener faden
schleim absonderung absonderlich
seidene vorhänge in den fenstern
schärften spiralnebel deinen blick
hülltest du dich
in eine letzte metamorphose
ein loch geschlagen in die erdkruste
war alles elektrisch das licht wie der stuhl
den gläsernen bogen des mondes strich ich
und musik erklang
eine dünne glasmusik (des todes)
die spuren der blumen führten in ein grab
das land lag weiß über frischem blut
und nur die erde wärmte den puls
der jäger und gejagten
wir flochten flachs zu schwarzem haar
mirjam sang
von einem blonden meer
einem toten meer
hob die stimme an
warst du in einem stern geboren
ein neuer ton klang in die nacht
der schlag einer schwanzflosse im netz
das fischer einholten
als das letzte mondlicht erloschen war
nach getaner arbeit am ende eines kurzen lebens
lag der see wieder ruhig
schien mir
nur ein zittern auf dem wasser noch
an einen tod zu erinnern
" Dichtung und Melancholie sind oft nicht zu trennen, wie »heimwehe« aufs Schönste beweist, der vierte Gedichtband von Werner Weimar-Mazur. Allerdings kann man »den schmerz mitlesen, auf dass er ver-/wehe; das weh eins w:erde mit der sehnsucht«, wie José F. A. Oliver in seinem lyrischen Buchgruß konstatiert. Die »gesänge«, so der Untertitel, bewegen sich dabei »zwischen granatglimmerschiefer, Schwarzem Meer, Teheran, Kabul und Isenheimer Altar«. Christoph Meckel, der erste Leser des Typoskripts, nannte diese Gedichte nicht zu Unrecht offene Gebilde mit einer weitschwingenden Musikalität. Und für Tim Trzaskalik sind sie »Tunwortgesänge«, weil in ihnen »so viel geschieht, die Welt so schön verrückt wird«. "
Der Lyrikband enthält in drei Kapiteln (zwölf gesänge + thirteen, neue gesänge, seidengesänge) je 13 "gesänge", wie die Gedichte darin benannt sind, sowie einen "Buchgruß" (in Gedichtform, anstelle eines Nachworts) von José F. A. Oliver. Die Schlusslektorierung erfolgte durch Tim Trzaskalik. Die Coverillustration stammt von Yannick Meusel.
"Mehr und mehr geriet ich in den Sog dieser, ich möchte sie gerne „Tunwortgesänge" nennen. In denen so viel geschieht, passiert, die Welt so schön verrückt wird. Es ist wirklich ein ganz eigenartiger und einzigartiger Ton."
(Tim Trzaskalik)
heimwehe. gesänge
Dortmund (Edition Offenes Feld, Hrsg. Jürgen Brôcan). 2022. ISBN 9783755753520
"Buchgruß" (anstelle eines Nachworts)
.
José F.A. Oliver
heimverweh:ende ins wort der w:orte
für W.W-M.
& den schmerz mitlesen, auf dass er ver-
wehe; das weh eins w:erde mit der sehnsucht. heimat
ist ein b:leibender begriff. kann
großes & klein(mütiges) anrichten; wenn
das wort w:ort wird
ins offene, ist es
ein menschenumarmender plural.
ich lese mich ein und werde fündig: „ich las
dein leben und wunderte mich / dass
ich nicht in ihm vorkam“. da
gräbt jemand mit seinen bildern und deren er-
zählungen auch nach meinem atem, der im rhythmus
dieser poetischen lebsätze aus längst gegenwärtigem ins vergangene versekämmt. was Werner Weimar-Mazur
vorlegt nachlegt darlegt
sind gedichte wie „ausgeschweiftes leben in einem goldenen schuh“. viel-
leicht ist ein teil des geHEIMnisses der anwesenheit ein verschwinden-
dürfen & -müssen
ins nichtgesagte, das alles
bespricht. verse, als
könnten sie sich, weil sie sich kennen,
an schmetterlingen verletzen vor lieb
und entschiedenheiten ins wider-
ständische, um das irdische
vieler- und n:irgendorts zu besingen. so sind gedichte, die
schürfen und schorfwunden hinterlassen im wort, das sich fügt
ins nächste und ins vertraut-fremde und: in die w:orte aller
ge:zeiten zwischen granatglimmerschiefer, Schwarzem Meer, Teheran, Kabul und Isenheimer Altar und: gedichte, die m:undbilder graben
tief ans oberflächliche der welt-
nehmungen. das ist fein-
gehauene poesie. filigran-gemetztes aus ältesten, neu-
alten und jüngeren weit-epochen der ge:schichten. diese gedichte sind
nicht vom himmel heruntergelogen; sie sind wind-
moos, luftwurzelfieber und erdlinge, die sich wahr- und warheiten beugen
gegen jegliches
kriegsgeschrei;
in ein mandelland handlichtgewobener hoffnung, aus und in den trost
der verlorenen zugesprochen. ein würdiger gesang
in klaren versen, auch mundgeflochten. sang um sang.
nicht nur sonntags verwandere ich mich in einen M:azurleser.
heimwehe. gesänge
Dortmund (Edition Offenes Feld, Hrsg. Jürgen Brôcan). 2022. ISBN 9783755753520
Buchbestellung
.
Der Lyrikband "heimwehe" kann direkt im Buchhandel oder auf der
Kontaktseite dieser Homepage bestellt werden.
Und hier noch zwei Links zu Buchbestellungen im Internet:
https://www.bod.de/buchshop/heimwehe-werner-weimar-mazur-9783755753520
https://www.amazon.de/dp/3755753529/ ... books&sprefix=werner%20weimar-mazur%2Cstripbooks%2C229&sr=1-2
Stimmen und Meinungen zu "heimwehe"
(c) Pegah Ahmadi
Pegah Ahmadi, Teheran-Köln, schrieb:
(veröffentlicht auf facebook 04.07.2022)
Was ist Heimweh anderes als sich selbst zu suchen und sich nicht finden zu können. Die Erfahrung ''Heimweh'', ist etwas, mit dem wir uns nach Novalis, immer beschäftigen. Das ist die Erfahrung der Unmöglichkeit, die Erfahrung der Sprache selbst, des Schreibens selbst, das allmählich von sich selbst entleert wird. Es geht um einen Versuch, zu jenem breiten Firmament, zu jenem vertrauten Wort, zurückzukehren, das nicht mehr mit seiner Vergangenheit identisch ist oder zumindest in unseren Gedanken immer obskurer wird. Es ist ein Wandern zwischen der Realität und der Erinnerung an das, was wir Heimat nennen; ein mühsamer Versuch, die Sprache, die sich weigert zu sprechen, mit Zweifel und Schwankung zum Sprechen zu bringen. Es geht um eine Fremdheit, laut Celan, dasselbe, was die Erzählung von Blanchot beendet; wenn sich die Türen der Erzählung an den Scharnieren der Erinnerung und des Desasters drehen. Heimweh ist an sich schon ein ''Warten-Vergessen''. Ein Warten, das auf der Suche nach Wunder, zur Fata Morgana einer unerreichbaren Sprache geöffnet ist.
''Die Dichtung ist [ jedoch ] Teil eines großen Weltgesang. Sie lässt uns heimkehren.'' schreibt Werner Weimar-Mazur. In diesem ''Heimweh'' ist es dann die Poesie, die vor dem leeren Himmel Zeugnis ablegt:
Wer mich kannte wusste
dass selbst das blau am himmel lüge ist.
in ihm spiegeln sich die augen von geckos
die an hauswänden hocken auf das ende der zeit warten
und von menschen beaobachtet werden die glauben
sie brächten ihnen glück
weshalb die augen der menschen dann blau wie der himmel leuchten
ich bog um die nächste straßenecke
sah fische und hörte singschwäne
und die nacht und die lügen nahmen kein ende.
(S. 49)
Oder, um es schöner zu formulieren, ein Heimweh, das durch das Geschriebene beendet wird:
'' ... heimwehe in einem Wort
war zeuge und verschwand''.
(S. 20)
Vielen Dank lieber Werner Weimar-Mazur für diesen tollen Gedichtband.
Irena Habalik, Wien, schrieb:
(privat in einem Brief 02.08.2022)
Mein Himmel, was für ein Buch, so schön, so optisch schön und inhaltlich noch schöner.
Die Gedichte / Gesänge gefallen mir gut. Viel Phantasie, die Texte umfassen die ganze Welt, vibrieren im All, wir vibrieren mit, mit der Zeit, mit den Zeiten, irgendwann fallen wir auf die Erde, auf den Alltag zurück.
"Wie Wasserzeichen im Mandelland"
(veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der Badischen Zeitung Freiburg, Samstag 17. September 2022)
Von René Zipperlen
Sa, 17. September 2022
Literatur & Vorträge
Freiburger Andruck: Neue Gedichte von Werner Weimar-Mazur.
"Ich grub nach verschütteten / gedichten einen sommer lang": Werner Weimar-Mazur spürt in seinem neuen Band Heimaten nach, geistigen, persönlichen, geographischen zwischen Kaukasus und Isenheim, verschütteten wie erträumten. Und weil es viele davon gibt, steht auch die Sehnsucht im Plural: "heimwehe". Seine "Gesänge" spielen oft am Übergang von Stadt zu Natur, zwischen heute und einer Zeit des Mythos. Es geht um verfließende Erinnerungen wie im schönen Bild vom Boot, das sich im See losgemacht hat und konzentrische Kreise von sich treibt, um Suche und Geborgensein.
Für den oft ein Du und ein Wir beschwörenden Ton sorgen Aufzählungsketten von Handlungen und kleinen Ereignissen, die auf eine Erklärung zuzusteuern scheinen, aber rätselhaft bleiben. Die Bilder werden oft surreal, Menschen werden zu Bäumen ("wir entlaubten uns in dieser nacht / bis auf die knochen"), Städte zu eisigen Nordwänden, in deren Klüften und Schründen sich Erstbesteiger wundscheuern, sind aber nicht immer frei von Konvention ("den gläsernen bogen des mondes strich ich / und musik erklang"). Sein persönliches Bilderarsenal spielt Weimar-Mazur in immer neuen Variationen durch, mit Verweisen von Homer bis zu Celan und Bachmann.
Dass der in Waldkirch lebende 66-Jährige als Geologe gearbeitet hat, zeigt sich in den Faltenwürfen, Gesteinen, Fossilien, die die Texte durchziehen. Und immer wieder sind da Wale, als moränenhafte Grashügel, als mahnendes Totemtier. Denn der Geologe weiß: Wir gehen und stehen auf Urzeitmeeren. Gegenwart ist ohne Vergangenheit nicht denkbar. So haben die Gedichte neben der horizontalen Erzählung auch eine vertikale Struktur. Bohrkerne, die tiefe Erinnerungsschichten ins Heute holen. So heißt es in "Vogelmenschen": "mächtige klastische sedimente / die falten decken bildeten / und sich schoben über eine frühere Zeit / war traum gedicht / und heimwehe in einem wort / war zeuge und verschwand".
Ein früher Leser war der 2020 in Freiburg verstorbene Dichter Christoph Meckel. Er nannte die Gedichte "offene Gebilde mit einer weitschwingenden Musikalität." Und auch, wenn mal ein Bonmot aufblitzt wie das von den Ichthyosauriern, "die mit ihrem aussterben um die wette schwammen": Die "Gesänge" stehen in Moll. Auch wo sie sinnlich sind, scheinen durch die zahlreichen Risse und Ritzungen Schmerzen durch, die sich wie im Ich abgelagert haben. Selten wird das so konkret wie im zarten "gesang zwei", in dem das Du an nebelverhangenen Flussauen "liegengelassene" Haare sucht, "auf denen du wiegenlieder spieltest / für ein totgeborenes / mit kristalliner struktur / webtest du wasserzeichen in ein mandelland". Das Glück ist flüchtig.
Hinter behutsamen und behütenden Bildern liegt außerdem oft eine Bedrohung, eine unheilvolle Realität, Kriege von gestern und heute brechen in die Idyllen: "in den wellen verhallten / schüsse aus einem fernen gebirge". Und die Frau, die nackt ans Fenster tritt, hört im Rücken die "stimme deines mörders".
Zwar erwachen manche der Figuren noch rechtzeitig aus ihren Träumen und finden Trost im Atem von Geliebten – doch am Ende hilft nur der Glaube an die Verwandlung: von Schmerz in Kunst. Wie bei Müjde, die unter einem biblischen Dornbusch ihre "leben und tode" träumt, um am Abend von Blumen und Faltern zu erzählen "die sich vereinten / um einen neuen gott zu zeugen". Dass das zu schön klingt, um wahr zu bleiben, weiß Weimar-Mazur: "wer mich kannte wusste / dass ich gedichte vom himmel herunterlog".
Werner Weimar-Mazur: "heimwehe. gesänge", Edition offenes Feld, Dortmund 2022. 132 Seiten, 18 Euro.
Buchvorstellung in der Reihe Freiburger Andruck am Mittwoch, 21. 9., 20 Uhr, Stadtbibliothek, Münsterplatz 17, Freiburg. Eintritt 9, ermäßigt 6 Euro.
Der Link zum Artikel in der Badischen-Zeitung-Online:
https://www.badische-zeitung.de/wie-wasserzeichen-im-mandelland
"Heimwehen"
(veröffentlicht in der Online Ausgabe von KUNO, Kulturnotizen zu Kunst, Musik und Poesie, seit 1989 – ISSN 1869-9383, am 14. Februar 2023)
Von Holger Benkel
»heimwehe« hat gegenüber dem vorherigen gedichtband »herzecho. lyrische sonogramme« von 2016 noch an substanz gewonnen, indem die textkörper komplexer und vielschichtiger geworden sind und das phantastische darin, über das spielerisch experimentelle hinaus, immer stärker prägend wurde. anfangs waren die imaginationen ausundaufbrüche aus dem normierten und begrenzten alltag. inzwischen betrachtet werner weimar-mazur alltägliches vielfach von vornherein aus oder in einer gegenwelt. außerdem wurden langgedichte häufiger.
die neuen gedichte heißen »gesänge«. texte und musik werden im gehirn ähnlich verarbeitet. das wort lyrik kommt bekanntlich vom altgriechischen lýra = laute, oder leier, zum spiel der laute gehörig, und nachfolgenden lateinischen lyra = laute, dichtung, lied, gesang von oden und hymnen zum spiel der laute, sternbild lyra. laut römischer legende erfand merkur, der gott der träume und götterbote, die laute. ein ausholender tonfall trägt die langgedichte und läßt sie strömen, in einer fließenden sprechweise, »in einem gebetsmühlenartigen, undulierenden auf und ab der sprache«, wie »heimwehe ‒ ein exposé« erklärt. undulation ist eine wellenbewegung und schwingung, geologisch die faltung einer schichtfolge. so überträgt der geologe weimar-mazur geologische strukturen auf literarische formen.
am anfang des buches zitiert er die brasilianische schriftstellerin clarice lispector: »“Schön sind deine Gedichte, mein Kleines. Wie macht man eigentlich so schöne Gedichte?“ „Das ist nicht schwer, man braucht nur zu sprechen und dann kommt’s von alleine.“« bei lesungen antwortete ich, wenn ich gefragt wurde, wann und wie literarische texte entstehen, das gute komme in kreativen momenten, die man nicht programmieren und erzwingen könne, meist von allein. und erläuterte dann, man sollte dafür die wirklichkeit wach und tief wahrnehmen und beständig seinen horizont erweitern, viel selber denken und beharrlich die sprache hinterfragen und worte in ihrem ursprung erkunden, das heißt gehirn und seele mit materialien, stoffen, motiven und ideen versorgen, so daß sie damit arbeiten können, sobald der schöpferische augenblick gekommen sei.
werner weimar-mazur aus waldkirch nahe freiburg im breisgau, als werner mazur in weimar geboren, verband den namen seines polnischen vaters mit dem seiner geburtsstadt. ähnlich nannte sich halldór laxness nach dem ort seiner geburt, oder max hermann-neiße, als max hermann in neiße geboren. weimar-mazur selbst sagt, er beschreibe, in »chiffren, codes, netzmustern«, verortungen, die heimwehe auslösen, oder heimwehen, im lyrischen ich, das sich mit seinem lyrischen du zu einem wir vereint, sowie im leser oder zuhörer. paul zech, geboren im pommerschen briesen, heute wąbrzeźno, wo die türen knarren, schrieb: »Das Du in mir, das Ich in Dir / lebt ungetrennt // fortzeugend noch, bis wir / vorwärts in heiligen Scharen / gemündet sind als Waldung oder Tier, / und wiederkehren nach Millionen Jahren.«
der buchtitel klingt nach schmerzhafter sehnsucht. der autor stellt seinen gedichten die zeilen »wir tragen mehrere heimaten in uns, / also haben wir auch allerlei heimwehe« voran. novalis formulierte: »Die Philosophie ist eigentlich Heimweh, ein Trieb, überall zu Hause zu sein.« der einer heimat, die auch ideell, erfunden, utopisch, jenseitig sein kann, ferne oder entfremdete hat heimweh, ein sehnen der seele nach abwesendem vertrautem, ja urvertrautem, oder unbekanntem, das man erträumt und begehrt, wenn das gute, das man braucht, nur anderswo zu finden ist oder scheint.
bei friedrich hölderlin lesen wir: »Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen, / Daß so ferne dir die Heimat liegt, / Armes Herz, du wirst sie nie erfragen, / Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.« karl kraus kannte ein jenseits, das mit dem tod endet. mascha kaléko wußte: »Jene Sehnsucht nach der alten Heimat / Ist (wer hätte das nicht schon erfahren!) / Nur ein Drittel Heimweh nach dem Lande / Und zwo Drittel nach vergangenen Jahren.« max frisch sprach vom modernen »Heimweh nach der Fremde«.
das wort heimweh, das anfangs eine psychische erkrankung meinte, entstand in der schweiz, erstmals nachgewiesen 1569, ausgelöst offenbar durch die schwermütige sehnsucht nach der heimat bei schweizer soldaten im krieg. melancholie und nostalgie hießen »Schweizer Krankheit«, morvus helveticus. weimar-mazur kennt die schweiz, wo er auch drei jahre wohnte, durch seine jahrelange arbeit als geologe dort. englisch homesick bedeutet heimwehkrank. weh, verwandt mit weinen, bezeichnet seelische schmerzen. weh sein heißt (seelen)schmerz empfinden, wehmütig, traurig, betrübt sein, weh tun zugleich schmerz zufügen. wehklage ist die laute klage. wehen heißen die schmerzen der gebärenden bei der geburt. auch das eintreten in eine unbekannte welt kann einer geburt gleichen.
schließlich verbreitete sich heimweh, nun unabhängig von der medizinischen bedeutung, im deutschen. zu beginn des 19. jahrhunderts wurde nostalgie zum gelehrten synonym für heimweh, zurückgehend aufs französische nostalgie = nostalgie, sehnsucht, abgeleitet vom lateinischen nostalgia, das auf griechisch nostalgia basiert, zusammengesetzt aus nóstos = rückkehr, heimkehr und álgos = schmerz, not, trauer, und ein schmerzhaftes verlangen nach heimkehr bezeichnet. heute meint deutsch nostalgie, das in meinem etymologischen wörterbuch zwischen norne und not steht, vor allem die zugleich melancholische und verklärende rückwendung zu vergangenem. nostalgie, verwandt mit genesen, wird häufig ausgelöst durch unerfüllte frühere hoffnungen und ein unbehagen an der gegenwart.
heimweh entsteht auch durch die entfernung und entfremdung von ursprüngen und anfängen. walter benjamin erklärte: »Was die Lust am Schönen unstillbar macht, ist das Bild der Vorwelt, die Baudelaire durch die Tränen des Heimwehs verschleiert nennt.«, gaston bachelard: »Unsere Vergangenheit ist in einem Anderswo, und eine Unwirklichkeit durchtränkt die Orte und die Zeiten. Es scheint, als halte man sich in den Vorhöfen des Seins auf. Und der Dichter und der Träumer können Zeilen schreiben, die ein Metaphysiker des Seins mit Gewinn meditieren würde.«
die motivwelt des dichters weimar-mazur ist vielfältig und stammt aus unterschiedlichsten bereichen: mythen, religionen, kulturgeschichte, märchen, literatur, kunst, reisen, geologie, biologie, medizin, fernsehnachrichten und alltagserfahrungen verschiedenster art, bis in die eigene kindheit und jugend zurück. dabei versteckt er sich nicht hinter seinen bildern, sondern wird persönlich darin erkennbar. wir finden im ich und du ein wir mit einem überindividuellen, ja menschheitlichen horizont, der in einer gespaltenen und zersplitterten welt meist fehlt.
zu den besonderheiten seiner lyrik gehört das vielfache verflechten und zusammenschauen von zeiten und räumen. die gedichte verbinden nahes und fernes genauso wie alltägliches und ungewöhnliches. das lyrische ich aus dem anthropozän, der menschenzeit, erinnert an zeitfernen orten eigenes leben und begegnet, indem es sich ins ferne und ausheimische einfühlt und hineindenkt, früheren erdbewohnern, lebt unter ihnen und verwandelt sich ihnen an.
in »Heimwehe« fügt er zeitlich und räumlich weit entfernte details aus schichten der erdundkulturgeschichte zusammen, bis ins prähistorische und vormenschliche hinein. seine erfahrungen als geologe und sein geologisches fachwissen verschaffen ihm entsprechende motive, die auch an die arbeit eines archäologen erinnern, der vergangenes entdeckt, freilegt und birgt. so verknüpft und vernetzt er, in großen bögen und kleinen schnitten, assoziativ metaphern, die im speziellen dort, wo sie elementar, archetypisch sind, magisches wahrnehmen aufscheinen lassen. zeit und raum entgrenzend nähert sich seine lyrik universellem erleben, das vermutlich das ursprüngliche, originäre ist.
in »gesang sieben« des zweiten kapitels »neue gesänge« lesen wir: »ein mammut überlebte / im permafrost wurde es besungen / bis in unsere zeit / eiskalt / zogen in zottigen gewändern / dichter und großwildjäger / in die bärlappwälder flohen die fasane / erlaubten die automobile am nahen golfplatz / einen geordneten rückzug«, in »gesang fünf«: »im rücken eines wals zuckte eine harpune / wir zogen uns zurück in die steinkohlenwälder / wo gingko und schachtelhalme mit baumfarnen um die wette sangen / erstrahlte dein antlitz in den straßen / blieben alle autos stehen«. die frühwelt der natur bremst autos, attribute des gottes der geschwindigkeit einer spätzeit, das heißt der gegenwart. zu sagen, daß hier auch ein ökologisches bewußtsein anklingt, ist angesichts der bilder fast banal, aber nötig. historisch betrachtet flogen speere und harpunen der tierjagd, letztere mit widerhaken, einer menschentechnikkralle, torpedos und raketen des menschenkriegs voran. in einigen texten kommen, bereits vor dem ukraine-krieg, vergangene und gegenwärtige kriege und bürgerkriege aus anderen weltregionen plötzlich bedrohlich nahe, so aus südamerika und der türkei.
friedrich nietzsche postulierte, also forderte hoffend, und hoffte fordernd: »Wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: – Seher, die uns etwas von dem Möglichen erzählen!« aber das mögliche verlangt mut. ganzheitliche erfahrungen sind als grenzerfahrungen ambivalent und können, wenn man sie real erlebt, traumatisch wirken. zugleich hilft das wahrnehmen frühzeitlicher welten als refugium gegenüber zumutungen der jetztzeit. matthias hagedorn notierte: »Um Poesie zu machen, die sich dezidiert über jede Norm hinwegsetzt, muß man einen mentalen Raum schaffen, der sich im Schwebezustand zwischen Tod und Leben, zwischen Traum und Wachen befindet.«
im ersten kapitel »zwölf gesänge + thirteen« schreibt weimar-mazur in »vogelmenschen«: »in einem früheren leben war ich vogelmensch / und flog durch kristalline gebirge / war schmetterlingsfrau und tauchte / in eine subduktionsszone / war fisch der schwamm über geosynklinalen / mächtige klastische sedimente / die falten decken bildeten / und sich schoben über eine frühere zeit / war traum gedicht / und heimwehe in einem wort / war zeuge und verschwand«, in »Seidengesänge« des gleichnamigen dritten kapitels: »erklommen wir in unseren träumen wortkaskaden aus dem altai«. jean paul kannte »Berge und Bergketten von Büchern.« benjamin meinte, man solle nicht nur die gipfel der literaturgeschichte erkunden, sondern auch »die geologische Struktur des Buchgebirges«.
die meisten gebirge der erde liegen unter wasser. im gesang »isenheim«, mit dem der band beginnt, erfährt der leser: »wir richteten uns ein im bauch eines wales / und hofften er würde uns wieder ausspeien / nach seinen tauchgängen im marianengraben / seinen flügen über wellenberge / hieltest du licht in den händen / antworteten dir stimmen und erinnerungen / hörten wir die nächte zu zählen auf / die jahre / das unglück«. im walbauch erleben das lyrische ich und du szenen aus ihrem leben und der vorwelt. jona sinkt biblisch im wal gefangen in die unterwelt hinab. durch gebete wird er errettet. der tonfall mancher gedichte weimar-mazurs kommt gebeten nahe. der fischbauch kann ein jenseits sein, in dem man lebt, was an das kind im mutterkörper denken läßt. das ausgespiehenwerden könnte einer wiedergeburt gleichen. das gedicht endet jedoch mit dem schlag einer schwanzflosse im netz der fischer und den worten: »schien mir / nur ein zittern auf dem wasser noch / an einen tod zu erinnern«.
c.g. jung formulierte, die welt des wassers sei das reich der seele alles lebendigen, »wo ich untrennbar dieses und jenes bin, wo ich den anderen in mir erlebe und der andere als Ich mich erlebt.«, also das reich der archetypen, der urbilder, des kollektiven unbewußten, egon friedell: »Raum und Zeit lassen sich quantitativ messen, die Lebensäußerungen der Seele nicht; im Raum herrscht das Nebeneinander, in der Zeit das Nacheinander, in der Seele das Ineinander.« und: »je ferner wir einer Sache stehen, desto tiefer wirkt sie auf uns, desto ästhetischer mutet sie uns an. Eine Pflanze erscheint uns poetischer als ein Tier, ein Kind poetischer als ein Erwachsener, ein Toter poetischer als ein Lebender.«
seine poetischen reisen führen ihn von island über spanien und griechenland bis zum orient, sozusagen an den säulen des herakles vorüber, laut pindar das westliche ende der antiken welt. man weiß nicht immer ganz genau, ob er lebensreale oder imaginierte reisemomente beschreibt, die auch ineinander übergehen können. nicht wenige orte der gedichte, odessa, teheran, kabul, liegen im süden und osten, richtung mittelmeer, kaukasus, altai, also in landschaften, aus denen jüngst der schakal, konkret der goldschakal, auch afrikanischer goldwolf genannt, als wild lebendes tier nach deutschland kam. infolge der klimakatastrophe, die klimawandel heißt, kommen vielleicht bald auch kentauren, minotauren, lemuren, gorgonen, sirenen und satyren, was eine bereicherung wäre. unglücksahnungen, eine domäne der traumatisierten, regen die phantasie an. hier fällt mir friedrich schillers »Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein ist Poesie!« ein.
die tiere in den gedichten weimar-mazurs sind etwas weniger geworden, während erdgeschichtliche und kulturhistorische motive zunehmen. auf odysseus und die sirenen kommt er mehrfach zurück. doch auch in diesem gedichtband treten wieder zahlreiche tiere auf, denen der autor begegnet, gewissermaßen in einem lyrischen tierpark. vögel wurden wohl sogar häufiger, während sie in der realität weniger werden, ausgenommen krähen und elstern, also allesfresser.
bereits die nennung der tiere führt in zusammenhänge seiner lyrik hinein. manche sind längst ausgestorben, wie die trilobiten vor 250 millionen jahren, praktisch alle haben durch die ausbreitung des menschen lebensräume verloren, viele gelten als bedroht, schneeleopard, antilope, schwarzstorch, waldrapp, der großschnäblige lateinamerikanische tukan aus der ordnung der spechte und die (meeres)schildkröte. einige erscheinen als wesen einer gegenwelt oder vermittler zwischen realwelt und fiktion oder sind phantasiewesen wie drache, minotaurus und sirenen. drache, elefant, löwe, bär, schmetterling, käfer, spinne und fisch galten c.g. jung als symbole des selbst.
am ende des buches dankt werner weimar-mazur dem 2020 verstorbenen freiburger dichter christoph meckel, der das manuskript von »Heimwehe« gelesen und ihm rat dazu gegeben hat, nachdem er schon zuvor seine literarische entwicklung angeregt und befördert hatte. der lyriker josé f.a. oliver verschafft ihm mit seinem nachwortgedicht »heimverweh:ende ins wort der w:orte / für W.W.-M.«, neben worten wie »w:erde«, »w:ort«, »n:irgendorts«, »ge:zeiten«, »ge:schichten« und »b:leibender«, indem die doppelpunkte die worte und deren sinnteile, die er zerlegt, zugleich trennen und verbinden, noch ein leuchtend helles blau in seinem namen, das ans mittelmeer denken läßt: »M:azurleser«, und damit eine farbe der sehnsucht, die das heimweh stimuliert, das auch ein fernweh sein kann.
Heimwehe. Werner Weimar-Mazur
(c) Kerstin Fischer
veröffentlicht auf der Internetseite "Pfauenwasser" im Blog "Rezensionen" von Kerstin Fischer, 16.09.2023
(veröffentlicht im Blog "Rezensionen" auf der Internetseite "Pfauenwasser.net" von Kerstin Fischer, 16. September 2023)
Von Kerstin Fischer
16. September 2023
"Die Verse von Weimar-Mazur erinnern in ihrer Schönheit und Contenance an karmesinrotes Herbstlaub, auf das sich Raureif gelegt hat. Es gibt eine eingängige Struktur, die nie ins Kryptische fällt und ohne Umschweife arbeitet. Dabei ist das lyrische Ich mit seiner Geliebten auf dem Weg zwischen Wanderschaft und Verortung zwischen „isenheim“ und „bosporus“ etwa. So werden in die Verästelungen des Schauens Räume gelegt wie Organe eines Körpers Heimat, „heimwehe“. Das gelingt mit diesen lyrischen Gesängen in freien Versen in ganz imponierender Weise: „zwischen häusern einer stummen vorstadt / und fernen dörfern eines felsengebirges am horizont / schwappten verse über die dächer / in einer fremden sprache / mit dem rauch der kamine / stiegen die wörter auf in die wolken /“. Alltagsszenen, Landschafts- Natur- und Städteentwürfe erscheinen wie schöne, geöffnete Muscheln. Das Leseerlebnis mäandert zwischen den Zeitaltern und Epochen. Dabei wird die Gegenwart als Trugstoff offenbar, wenn von „herzen und ammoniten“ im selben Atemzug die Rede ist, in dieser eindrucksvollen, dichten Parade von Bildern.
Wer sich auf Weimar-Mazurs Lyrik einlässt, bewegt sich auf poetisch hochwertigem Parkett. Das steht ganz außer Frage: „ruhte meine hand / auf deiner brust / spiegelte sich der atem / der möwen / im licht / “ Oder „gehüllt in den weihrauch des sommers / zerfloss die stadt in verse / an einem nachmittag / wundersam wild / schmiegten sich ihre straßen aneinander /“.
Die Gedichte ziehen wie die Schönheit von Antilopen durch die Steppen der Welt, im Spiel mit dem Sinn ihrer Duldsamkeit. Ein gereifter Dichter schreibt hier, ein Schauender, ein Sezierender, scheinbar ungebrochen, trotz höchster offenkundiger Sensibilität, der eine überaus klare Sprache findet auch für das surreal anmutende. Es wird zum Ventil, wo die unmittelbare Erfahrbarkeit nicht mehr ausreicht. Mazur scheint bemüht, hier obendrein die Grenzen elegant zu verwischen. Vielleicht um die einseitige Betrachtung der Wirklichkeit in Zweifel zu ziehen: „war das eis gebrochen / zerrannen flüssigkeitskristalle zwischen deinen fingern / schwebten fische über die anomalie des wassers // stürzten wir uns in liebesgebiete / jeder in ein anderes / bis die nächte ausuferten in blut /.“ Nicht nur die Exkursionen in die Zweisamkeit erinnern oftmals ein wenig an Fantasy: “lag dein gesicht zwischen zwei monden / zerfloss schnee / waren die konturen deiner augen / einmal licht einmal nacht /“. Das macht die Lektüre dieser Gesänge und oder Gedichte immer wieder auch sehr spannend und zum besonderen Texterlebnis, das haften bleibt.
Einen herrlichen, poetischen Gruß am Ende, quasi als überraschendes Nachwort zu nehmen, hat der Dichter José F. A. Oliver verfasst. Ein Schlüssel zum Verständnis, eine Hommage, aber auch ein eigenständiges, wunderbares Gedicht, wohl alles drei trifft zu und erfreut:
„nicht nur sonntags verwandere ich mich in einen M:azurleser.“.
Heimwehe. Werner Weimar-Mazur, edition offenes feld, Dortmund 2022
Der Link zum Artikel im Blog "Pfauenwasser":
https://www.pfauenwasser.net/2023/09/16/heimwehe-werner-weimar-mazur/
Lesung "isenheim"
Mit einem Klick auf das Bild oder den nachfolgenden Link öffnet sich eine kleine YouTube-Autorenlesung mit dem gesang "isenheim"
https://www.youtube.com/watch?v=EWQPxIuoPxA