Vivisektionen. Gedichte.

katinka

vivisektionen. gedichte

Dortmund (Edition Offenes Feld, Hrsg. Jürgen Brôcan). 2023. ISBN 9783756838196

in der Abendstille –
woher plötzlich deine Gegenwart, zitternd, zutraulich?
(Marzanna Kielar, Sacra conversazione, Gedichte, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Suwałki 1992, München 2020)

ach mütterchen
schicke mir keine botschaften mehr aus dem off
keine lunchpakete vom grund des ozeans
ich will endlich schlafen
schwimmen durch die nacht
zwischen deinen flügelschlägen
verstecken sich moosbeerige blicke
auf die abgeholzten wälder der hügel ringsum
wir sitzen am orlastrand und beobachten die fische
die steine
wie sie bauchoben auf dem wasser treiben
zur weißen frau
ach mütterchen
kaum erinnere ich mich an deine stimme
deine handtasche
nur an die zigarettenschachtel darin
die marzipankartoffeln an einem dezemberabend
meinen fahrschein für die straßenbahn
er trug einen grünen rand
es gab nur die großstadtlichter und uns
wir sollten diese tage nicht zu oft wiederholen

 

Landschaft und Geschichte sind verwoben, nicht nur in den Texten von Werner Weimar-Mazur. Aber diese Gedichte geben eben dieser Verwobenheit einen strukturellen Ausdruck. Ein Teppich, den man liest, wenn man ihn betritt. Er verweist auf die Verflechtung der Kunst mit der Wahrheit. Wahrheit gestaltet sich demnach als Streit zwischen Verbergen und Unverborgenem, zwischen Welt und Erde. Wobei Welt das Unverborgene meint, in dem sich der Mensch einrichtet und welches als Vorliegendes eröffnet würde.
(Aus dem Nachwort von Jan Kuhlbrodt)

vivisektionen. gedichte

Dortmund (Edition Offenes Feld, Hrsg. Jürgen Brôcan). 2023. ISBN 9783756838196

Nachwort

von
Jan Kuhlbrodt

Hidden Memory – zu den Gedichten von Werner Weimar-Mazur

»sehen wir sterne
die es nicht mehr gibt
menschen die nicht mehr sind«

Herkunft ist Erinnerung an jenen Ort, der wahrscheinlich außerhalb der Erinnerung so gar nicht existiert, oder eben nicht mehr existiert, der zumindest außerhalb des Textes keinen Bestand hat. Schmilzt. Der Dornbusch aber brennt, ohne zu verbrennen. Vielleicht gibt es ein Vermögen, der Landschaft die Erinnerungen auszulesen. Auch fremde, oder gerade solche.
Denn Landschaft und Geschichte sind verwoben, nicht nur in den Texten von Werner Weimar-Mazur. Aber diese Gedichte geben eben dieser Verwobenheit einen strukturellen Ausdruck. Ein Teppich den man liest, wenn man ihn betritt.

Im Text "Die Technik und die Kehre" verweist Martin Heidegger auf die Kunst als eine Weise des Entbergens, die das Wahre hervorbringt, und räumt ihr, wenn auch verhalten, eine mögliche Teilhabe am Wachstum des Rettenden ein. Er verweist auf die Verflechtung der Kunst mit der Wahrheit. Wahrheit gestaltet sich demnach als Streit zwischen Verbergen und Unverborgenem, zwischen Welt und Erde. Wobei Welt das Unverborgene meint in dem sich der Mensch einrichtet und welches als Vorliegendes eröffnet würde. In dieses Offene rage die Erde, die gleichsam sich verschließt, sich zwar gegenständlich darbietet, aber vorstellend nicht zu erfassen sei. So nehme der Stein seine Schwere in sich und auch nach Zerschlagen des Steines in seine Trümmer zurück.

Man könnte meinen, der Schwarzwaldphilosoph habe einiges vom geologischen Wissen eines Novalis oder eines Weimar-Mazur besessen, oder zumindest erahnt. Etwas vom Vermögen in den Strukturen zu lesen, die uns umgeben, und die Spuren und Erinnerungen zu entbergen.

Jan Kuhlbrodt

vivisektionen. gedichte

Dortmund (Edition Offenes Feld, Hrsg. Jürgen Brôcan). 2023. ISBN 9783756838196

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Stimmen und Meinungen zu "vivisektionen"

"erdschichten und sternenhimmel"

Signaturen - Forum für autonome Poesie

Rezensionen, 06.12.2023

(veröffentlicht online im signaturen-magazin, München, am 6. Dezember 2023)

Von Holger Benkel

der band beginnt mit dem gedicht »“… verse näher an sich heranlassen …“ / für christoph meckel (* 12. Juni 1935, † 29. Januar 2020)«, zwei tage nach dessen tod geschrieben. das zitat stammt aus einem brief des freiburger dichters meckel an weimar-mazur aus dem jahr 2011. man läßt gute gedichte nahe an sich heran, weil sie von fernher kommen, aus den tiefen der seele eines dichters. weimar-mazur stand seit 2010 in einem austausch mit meckel. im gedicht für meckel heißt es: »ich halte die wasser an / den wind / ich halte den schnee an / ich unterbreche die blutspur des pumas in den bergen / ich folge dem formationsflug der kraniche / auf der gekräuselten wasseroberfläche eines fremden meeres / ich lausche dem surren eines immenvogels / im kelch einer glockenblume«. liest man einen dichter nach seinem tod weiter oder schreibt über ihn, aufersteht und überlebt er in seinem leser und interpreten.

gedichte liefern topographien der seelenwelt. weimar-mazur, der als geologe arbeitete, denkt auch schreibend in strukturen und schichtungen. das geologische interesse hat bei deutschsprachigen schriftstellern tradition, von johann wolfgang goethe über novalis, clemens brentano, heinrich heine und adalbert stifter bis zu peter handke. ein lyriker mit vielen geologischen motiven ist der französische spätsurrealist jüdischer herkunft andré du bouchet, der unter anderem auf dem kalkplateau des vexin im nordwesten frankreichs gelebt hat, den aber in deutschland nur wenige kennen, obwohl paul celan ihn übersetzte.

am anfang des bandes ruft weimar-mazur arthur rimbaud auf: »Es geht darum, durch Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen … Es ist falsch, wenn einer sagt: Ich denke. Man sollte sagen: Es denkt mich … Ich ist ein anderer.« der poet sei »beladen mit der ganzen Menschheit, sogar mit den Tieren. Er muss, was er dichtend entdeckt, fühlbar machen, tastbar, hörbar«, und: »Eine Sprache finden – und wenn schließlich jedes Wort ein Gedanke ist, dann kommt auch die Zeit einer Universalsprache.« dichter sprechen in bruchstücken und splittern einer universellen sprache. das ist viel und mehr kaum möglich.

wer werner weimar-mazurs literarische entwicklung, so die motivischen und stilistischen veränderungen, über jahre hinweg miterlebt hat, sieht, daß seine gedichte stetig komplexer und ausgreifender wurden. bereits in »heimwehe« (2022) finden wir langgedichte, zudem bewegte er sich zunehmend aus regionalem heraus ins weltkulturelle, und zwar räumlich wie zeitlich. inzwischen gleichen seine gedichte, die details aus verschiedenen kulturen und kulturschichten verweben, teppichen oder batiken.

in »[wenn die minze wieder blüht]« berichtet er: »als kind spielte ich am liebsten auf dem friedhof«. mein kindergarten lag über einem alten friedhof. direkt daneben waren noch parkartige reste der früheren friedhofsanlage. die einstigen grabpflanzen hatten sich allein weiter verbreitet und wuchsen neben wilden blumen, gräsern und kräutern. efeu rankte bis hinauf in die baumwipfel. für mich als kind bildeten kindergarten und fried-hof kontraste. der kindergarten verlangte ordnung, disziplin, pflichterfüllung und gruppenleben, folgte also algorithmen der damaligen zeit, während der friedhof mit seinen geheimnis-vollen halbdunklen ecken und bizarr verwitterten grabsteinen etwas überwirkliches hatte, das die phantasie anregte. bei weimar-mazur könnte das ähnlich gewesen sein.

Neben meckel und rimbaud ließ er sich für die gedichte in diesem band von texten und textpassagen bei friedrich hölderlin, josephine verstille hopper, halldór laxness, paul celan, pier paolo passolini, zbigniew herbert, ingeborg bachmann, jürgen becker, sarah kirsch, nicolas born, peter kurzeck und bernardo serrano velarde anregen. außerdem bezieht er sich auf texte und textstellen bei nancy hünger aus thüringen, marzanna kielar, jovana nastasijević, lika kevlishvili, katerina poladjan, yamen hussein und lina atfah. Er greift also auf heutige mittelost-undsüdosteuropäische und vorderorientalische lyriker und insbesondere lyrikerinnen zurück, die, polnischer, serbischer, georgischer, armenischer und zudem syrischer herkunft, aus katholisch, christlich orthodox oder islamisch geprägten kulturen mit starken bildwelten kommen.

etliche motive bei weimar-mazur entstammen orientalischen kulturen, so der duft der früchte, kräuter und tees, der ans glückliche arabien erinnert, und bilden zugleich einen kontrast zu repressionen, kriegen und bürgerkriegen in den betreffenden ländern, etwa in »seidenstraße virtuell«: »mädchen in safrankleidern / kardamon und weihrauch würzige kräuter / auch opium gegen die schmerzen und für das vergessen / von zeit zu zeit ziehen heilige krieger auf kamelen / durch heilige kriegsgebiete / auf den bergkuppen flakgeschütze luftabwehr / raketen im schatten des halbmonds«.

das »johannesevangelium«, ein langgedicht und analytischer gesang, bereits 2019 geschrieben, spricht durch das, was es mitteilt, nüchtern, ja ernüchtert. denn es betrachtet kritisch die heutige welt und wird dabei teils zu einem abgesang. »treffen sich eisbär und pinguin / auf einem eisberg am äquator«. das klingt zunächst witzig. der klimawandel wird einiges nötig machen, das heute als absurd gilt. Die menschheit ist zur größten klimakatastrophe auf erden geworden. wenn eisbären, die sich zunehmend mit braunbären vermischen, im polaren norden nicht mehr leben können, verfrachtet man sie vielleicht zum südpol, wo sie dann pinguine jagen und fressen könnten, was pinguingemeinschaften, die bisher keinen eisbären kennen, sicher stören würde. »wenn aber die erde zurückkehren wird / in eine stille / eine leere / und ein geist eines gottes über einem wasser schweben wird / werden alle anfänge alle enden alle worte alle zeiten vergessen sein«. das sind weltendaussichten. apokalyptische szenarien findet man in der aktuellen literatur häufig. an geschichte erinnert sich allein der mensch. deshalb kann er auch über seine lebenszeit hinausschauen, eigentlich.

außerdem thematisiert besagtes gedicht gewalt: »ich schaue nach oben auf einen fernseher / in irgendwelchen spätnachrichten / liegen tote auf einem schulhof / überall ist polizei und sind rettungswagen einer ambulanz / laden sanitäter verletzte ein / die ein massaker überlebten«, »in einem internet schaue ich mir ein video an / in dem heilige krieger eine geisel enthaupten / ein smartphone lasse ich läuten / mit diesem alten rocktitel als klingelton / highway to hell«, »in einem schaufenster lagen / abgetrennte köpfe exekutierter dichterinnen / die über tote schrieben«, »flakgeschütze standen bereit / raketen schlugen ein in besetzte gebiete / in siedlungen tobten aufstände und häuserkämpfe / wie in prophezeiungen besungen / erfüllungen göttlicher gesänge« und »feiern soziale medien und autokonzerne an börsen erfolge / steuerfrei versteht sich / niemandsland«. nachrichten aus einer lebenszeit, die zur gefahrenzeit und todeszeit wird. südeuropa brennt im sommer 2023 und europas grenzen bluten. 2021 wollte man flüchtlinge in griechenland mit schallkanonen vertreiben. sie sollten so verjagt werden wie zur plage gewordene krähen. wer nach europa will, soll offenbar wissen, daß ihn schmerz erwartet. geld und waren, die problemlos grenzen überschreiten, haben größere freiheiten und rechte als menschen. welches menschenbild liegt dem zugrunde?

in »vogelmenschen sprechen armenisch« zitiert weimar-mazur die armenisch-russisch stämmige dichterin katerina poladjan mit »Es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen.«, eine jahrtausende alte weisheit. die toten überschauen die welt besser, und vor allem objektiver, als die lebenden, da sie frei von äußerlichen lebensinteressen sind und sich daher ganz aufs innere wahrnehmen konzentrieren können. vogelmenschen haben sumerisch, ägyptisch und griechisch gesprochen, aber auch armenisch. armenien gehörte zum antiken kulturraum.

neben tieren findet man in weimar-mazurs neuem gedichtband verstärkt pflanzen. die meisten lyriker sind eher vegetarische naturen. in »stoßwellenmetamorphose | die verschleierung von gedichten« fragt er, von corona, der jüngsten krone der krankheiten, dazu angeregt, »an welchem schöpfungstag [oder war es in der nacht?] erschuf gott die viren // wir ziehen weiter / unseren gedichteherden hinterher / auf der suche nach neuen weidegründen«. allerdings könnte man fragen, ob gedichte herden bilden. ich sehe sie als einzelgänger. in einem buch verbinden sie sich freilich.

auch gibt es öfter blicke des dichters zum himmel, die umgekehrten zu den geologischen unter und in die erde. der himmel leuchtet sozusagen mit seiner unendlich weit entfernten geologie. gedichte können wie raumschiffe oder fernrohre sein, die durch seelenreiche reisen. in »abend der partisanen | kebec« lesen wir: »der mond nimmt dich in seinen arm / erdrückt dich mit seinem dicken bauch / der mond singt ein wiegenlied / für dein ungeborenes kind / in seinem licht zittert das gras«. der mond wurde als weiblich gesehen, etwa als urmutter oder muttergöttin. das mondwachstum galt oder gilt als analogie zum wachsen des kindes im mutterkörper.

Die eigentlichen »vivisektionen«, die dem buch seinen titel gaben, sind kurze, und teils spielerische, texte, letzteres etwa durch sprachspiel, so »vivisektionen x«: »erdruhepuls im jet lag / zeit zonen über winden / in richtung oder gegen / die zeit und deinen / mittelatlantischen rücken / streifen // streifen / weise deine tiefseegräben / erforschen durchpflügen und / die dunkelheit // vergessen / die stille deines atems ist / die beschleunigung der wale / des planktons das in deinem fruchtwasser schwebt / schwebt«.

 

"HUCH, WELCHES LEBEN SEHE ICH DENN HIER?!"

Foto Björn Hayer

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(veröffentlicht am 12. Januar 2024 in „BÜCHER magazin“, Ausgabe 02/2024, falkemedia GmbH & Co. KG, Schönkirchen, S. 30, unter der Rubrik „INTERPRETATIONSSACHE: EIN GEDICHT“, zu dem Gedicht „für (drei gedichte, gewidmet)“, aus Werner Weimar-Mazur: vivisektionen, Gedichte, edition offenes feld, Dortmund, 120 Seiten, 2023.)

Von Dr. Björn Hayer

„Wer ein Gedicht liest, liest eigentlich immer viele. Sprachkünstlerisches Amalgam anderer Texte lagert sich häufig in ihm ab. Nicht immer unmittelbar erkennbar. Doch manchmal lassen sich die Spuren nicht übersehen, wurden sie doch ganz bewusst als Dank oder Hommage gelegt. So verhält es sich mit den Miniaturen in dem Band „vivisektionen“ von Werner Weimar-Mazur, den man vielleicht zu jenen Dichterpersönlichkeiten zählen könnte, die vieles von Bedeutung zu sagen haben, obwohl sie öffentlich schweigen – oder zumindest sich asketisch zurückhalten. Das Ungesagte steht auch in seinem Poem „für (drei gedichte, gewidmet)“ mitten im Raum, genauer zwischen den Versgruppen. Nachdem „er“, also ein Mann oder wahlweise der „grobkörnige Tag“, darin um das Haus und dann abstrakt um eine andere Fotografie gegangen ist, findet die Ansprache des Betrachters statt. Die Grenze zwischen dem Kameraprodukt und der Biografie des nicht näher Angesprochenen verschwimmt. Und urplötzlich ereignet sich die Entfremdung: Obgleich sich das Du in dem Bildnis gespiegelt gesehen hatte, scheint niemand mehr von früher darauf sichtbar zu werden. Wie in Jürgen Beckers ähnlich verfahrendem Gedicht „EINE ZEIT IN BERLIN“, das Weimar-Mazur zitiert, dokumentiert „für (drei gedichte, gewidmet)“ die tiefe menschliche Erfahrung des ewigen Wandels. Ein Ort oder eine Denkweise verändern sich, und schon mutet das Leben von einst wie ein ganz anderes, unbekanntes an. Derlei Überraschungen – mal schockierend, mal rätselhaft – durchdringen die „vivisektionen“ des 1955 geborenen Autors. Sich auf sie einzulassen, was unserem dringenden Rat entspricht, heißt, jede Grobkörnigkeit zu durchdringen und stets bedachtsamer der schimmernden Feinstrukturen gewahr zu werden.“

 

BÜCHERmagazin 2/2024

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