Herzecho - Lyrische Sonogramme
undulation
herzecho. lyrische sonogramme
Verlag Rote Zahlen, Buxtehude, ISBN 978-3-944643-72-4
1
großes herzecho an der wand
hängen gemälde von bruegel
du spielst violine
2
wir falten blumen zu gedichten
und verfüttern sie an die ungläubigen
hautflügler
3
adonisfalter wollen wir sein
auf einem röntgenbild
mit lungenflügeln
4
du atmest groben sand
mit den flugzeugen
ziehen stare übers gebirge
döllacher elegie (tauern und tage) wir gehen über haut andere vergnügungen gönnen wir uns nicht mehr dein gesicht liegt eingebettet zwischen moränen du schmiegst dich in die landschaft grün feucht und kalt blättert haut auf wie rinde oder schiefer das moos auf den steinen könnte von uns sein erinnerung an ein tal einen felssturz damals und stimmen aus dem gebirge wir gehen an den fluss haut an haut und tauschen worte gegen zitronenfalter unsere körper fließen mit den silben durchsichtig wie flügel im licht |
troja über die gefalteten dächer wirft der krieg girlanden ayhan schläft seit tagen ziehen schillerfalter ins gebirge liegen tarnnetze über karawansereien und in den ebenen flugabwehrraketen ayhan geht im traum nackt zwischen soldaten schläft der halbmond hören schmetterlinge flüsternde stimmen in den bergen drängen truppen von allen seiten gegen die stadt auch vom meer täuschen weiße segel frieden vor rudert ayhan ihnen entgegen in simulationen fällt soldaten das töten leicht im häuserkampf richten sich die gefalteten dächer noch einmal auf später werden die dichter des landes die schönheit der berge besingen doch die schillerfalter kehren nicht zurück |
b fließen stimmen den abhang der zeit hinab drängt gedankenschutt zu tal im netz der landschaft verfangen sich die letzten flüssigkristalle einer früheren epoche geh ich den weg der monde und gestirne sind sanduhren gefüllt mit falterstaub erinnerungen einsamkeiten schwarze löcher bleibst du bleibe ich stehen staunen wir fülle ich noch einmal die zeit mit moränen rotkehlchen gesängen stille stille so groß wie zwei karseen im winter so weit die arme reichen die hände begreifen deinen leib unter schnee den amselleib lass die haut blühen im frühling mit den himmelsschlüsseln buschwindrosen auf rabatten zwischen kieswegen und mauern zählen wir magnetisch im schwerefeld der liebe 21 22 23 schatten legen sich neben uns durchschnitten von einem strom aus stimmen können wir durch glas gehen mit den zugvögeln kehren die raketen zurück die flakgeschütze landminen kindersoldaten in aussichtslosen stellungen an einem abhang reicht weit der blick über nomadenzelte |
mecklenburg (gesang für ein polnisches fischgericht) vater spricht von häuserbauen auf der weide die stute galoppiert über die straßen zieht salzluft in bernsteinfarbenen fenstern spiegeln rosenblätter schneefalter einen krieg zwei kriege bist du fort gezogen und gestorben dein gummibaum erinnert noch deine schwestern sind alle tot deine brüder nur einer hat überlebt ruhe kehrt ein in die prallen ähren des vaterlandes verräter ziehen weiter nach osten süden im norden liegt ein meer und wellen heben an zu einem gebet für moränen geschiebemergel findlinge toteis zittert deine hand zittert dein haar im wind spielen zwei möwen alles ist grau und du spielst mundharmonie die tage lehnen sich an ein scheunentor das stroh ist geerntet auf elektrischen schlachtfeldern eines junkers lippe befiehlt uns zu bleiben bad doberan das umland erwacht an einem kühlen morgen stand jan in der tür und wollte bleiben auf ein leben und einen tod klirrten die gläser |
herzecho. lyrische sonogramme
Verlag Rote Zahlen, Buxtehude, ISBN 978-3-944643-72-4
Nachwort
welten – gegenwelten
warane parken im krähenwinkel
zur lyrik von werner weimar-mazur
nach »Tauch ein« (1995) und »hautsterben« (2012) legt werner weimar-mazur mit »herzecho – lyrische sonogramme« seinen dritten gedichtband vor. die motivwelt der neuen gedichte entstammt zu einem großen teil der geologie, der autor arbeitet selbst als geologe, und der tierwelt. daneben finden wir motive der medizin und der archäologie. der medizinisch klingende buchtitel, »herzecho – lyrische sonogramme«, passt, wie das cover-motiv, zu den medizinischen motiven, assoziiert jedoch auch echos der seele, deren sitz das herz sein sollte. griechisch kardia = herz ist verwandt mit lateinisch cardo = hauptpunkt, hauptachse, angelpunkt, drehpunkt, weltachse, pol, wendepunkt, türangel, eigentlich schwinge, spätlateinisch himmel. da das herz das zentrum des lebens bildet, konnte es lebensursprung sowie organ der liebe, heilung und auferstehung sein.
andere motive stammen aus der familiengeschichte. die mutter, thüringer herkunft, und der vater, mecklenburger polnischer abstammung, sind, meist eingebettet in kindheitserinnerungen, häufige figuren. zur empathie dieser gedichte gehört, dass sie oft ein du ansprechen, was ihnen teilweise etwas dialogisches gibt. mitunter wird ein wir aufgerufen, das sonst eher der lyrik slawischer länder eigen ist. durch seinen vater hat werner weimar-mazur ein verhältnis zu polnischen mentalitäten, was man bei verdichtungen seiner besuche in polen merkt, aber auch an polnischen tonfällen seiner lyrik. diese beschäftigung führt bis zur vorstellung, dass er bei andern lebensumständen auch in polen hätte aufwachsen können, und seinen anderen ursprung dann vielleicht im deutschen, und hier besonders in weimar und thüringen, suchen würde.
häufig erscheint auch die deutsche einfamilienhaussiedlung mit ihren bewohnern, häusern und gärten. letztere kann man, wie parkanlagen, als nachfolgeformen, nachahmungen oder variationen des waldes sehen. in der zunächst realistisch geschilderten stadtwelt, die wiederholt phantastisch verfremdet und bisweilen auch ironisch betrachtet wird, geschehen jedoch unerwartete dinge. mitunter schieben sich, auf gefährdungen unserer lebenswelt verweisend, bilder von gewalt und krieg, oder auch moderner technik, in den alltag, oder in urlaubswelten, und bedrohen so die tatsächliche oder scheinbare idylle, wie in »quittenland«: »streunen kinder durch die nächte / sprühen sie schreie an wände / und gießen quecksilber übers trottoir / fallen auf dem boulevard schüsse / klopfen stimmen ans fenster / letzte nacht war es der regen«.
bei einem lyriker findet man, direkt oder indirekt, neben den personen immer auch die landschaften der kindheit und jugend. bei werner weimar-mazur sind dies vor allem südwestdeutsche mittelgebirge wie der schwarzwald sowie alpine landschaften. er betrachtet topographien, den geologischen blick steigernd, magisch. als ich seine gedichte vor einigen jahren erstmals las, dachte ich zunächst an andré du bouchet, einen französischen lyriker des 20. jahrhunderts, in dessen gedichten die steine klirren und der schrieb: »Alles hebt an mit dem unvollendeten Berg, / mit einem verlorenen Augenblick Erde.« und »überall splittern / unsre Gesichtszüge.«
»insubrische linien ziehen durch grate / einem schürfling aus der unteren erdkruste gleich / führst du meine hand / und streichst glatt das gebirge« heißt es in »gott hart«. hier verbindet weimar-mazur, wie auch an anderen stellen, das erdgeschichtliche direkt mit dem privaten, ja intimen. man kann den lyriker einen geologen der seele nennen. bergleute empfanden erze, kristalle und minerale teils als etwas wachsendes und lebendiges, pflanzen, oder gar tieren, nicht unähnliches. romantische dichter, vorläufer und zugleich frühe kritiker der moderne, die den erdinnenraum als einen seelenraum betrachteten, sahen in solchen gesteinen herzen der erde. das erz, das der mensch zum profanen gebrauch embryonen und herzen gleich dem leib der berge entreißt, um es in geld und gewinn zu verwandeln, korrespondiert in der literatur seit der romantik vielfach mit dem motiv des kalten herzens. mythen verschiedener völker kennen gebärende steine. zugrunde lag die vorstellung, dass in bestimmten steinen der geist der ahnen stecke, dem an der fruchtbarkeit der nachfahren gelegen sein muss. der versuch, wissenschaftlich nachzuweisen, dass kristalle lebendige wesen seien, die eine seele haben, sich bewegen und vermehren und nahrung aufnehmen, blieb dem philosophischen naturforscher ernst haeckel, einem nachfolger darwins, vorbehalten.
der leser begegnet in den neuen gedichten von werner weimar-mazur annähernd siebzig tieren, davon fast dreißig vogelarten und über zehn insektenarten, vor allem schmetterlingen. man findet exotisch und phantastisch anmutende tiere, die oft als wesen einer gegenwelt oder vermittler zwischen realität und phantasie erscheinen, silberlöwe, schneeleopardin, jaguar, elefant, giraffe, waran, gecko, leguan, salamander, wasserschlange, flughund, kolibri, bis hin zu vogelmenschen und papiervögeln, und seltenen einheimischen wie schwarzstorch und waldrapp, aber auch sehr kleinen, beißschrecke, skorpion, florfliege und wanze. für amseln, einst einsame waldvögel, die heute immer häufiger in menschlichen siedlungen zwischen hecken und sträuchern leben, scheint der autor eine besondere vorliebe zu haben. in dieser affinität zu tieren wirkt auch eine sehnsucht nach verlorener natur mit. manche unserer vogelarten konnten immerhin aus dem gerodeten wald in kleingärten und parks übersiedeln, weil sie dafür jahrhunderte zeit hatten.
weimar-mazur ist ein entdecker und schöpfer zeitlicher und räumlicher verfremdungen. nicht zufällig erscheint bei ihm ein vogel wie der waldrapp, siehe das gedicht »wawel«, der seine eigene merkwürdige natur- und kulturgeschichte hat. der waldrapp, auch waldrabe genannt, der europäische schopfibis, ein naher verwandter des einst heiligen schwarzen ägyptischen ibis, den herodot beschrieb, war während der eiszeiten in europa verbreitet. vor seinem aussterben waren die alpen sein letztes rückzugsgebiet. dort lebte und brütete er noch bis 1630 vereinzelt, und daher isoliert, etwa in der steiermark und der schweiz, ehe er verschwand. für den deutschen sprachraum überliefert blieb er allein durch konrad gesner, der ihn waldrapp nannte und in seinem 1557 erschienenen »Vogelbuch« schilderte und abbildete. überleben konnte der waldrapp in afrika. inzwischen versucht man, ihn wieder in mitteleuropa anzusiedeln.
gegenüber werner weimar-mazurs zweitem lyrikband »hautsterben« sind die gedichte in »herzecho – lyrische sonogramme«, während viele motive in variationen erneut erscheinen, komplexer, verfremdender, spielerischer und phantastischer geworden. übergänge zwischen realismus und phantastischer verfremdung sowie ausbrüche und transformationen ins phantastische, das kontraste zur profanen lebenswirklichkeit bildet, aus der es teilweise zugleich hervorgeht, gehören inzwischen zu den eigenarten seiner lyrik, die vor allem von visuellen wahrnehmungen lebt. indem er assoziativ und filmschnittartig, oder wie in traumsequenzen, zeiten und räume verschiebt, fließen realistische beschreibungen des alltags und imaginierte gegenwelten ineinander. man kann darin eine tendenz zum magischen oder phantastischen realismus sehen. »im summen von florfliegen und helikoptern / wartet gondwana« lesen wir in »wendekreis des kolibris«. der schlafmohn erscheint gefiedert (»thüringen«). warane parken im krähenwinkel (»subkutanes«). und eine giraffe schläft vor dem fenster (»erwachen«). die real erlebten oder imaginierten tiere werden zu vertrauten wesen, die sie dem menschen in urzeiten, und noch vergangenen jahrhunderten, einmal waren. elias canetti prognostizierte, mit wachsender erkenntnis würden dem menschen die tiere wieder näher sein. wenn sie dann aber so nahe seien wie schon einmal in den ältesten mythen, werde es keine tiere mehr geben.
»in erinnerung an mein leben / als echse häute ich mich / dreimal täglich« heißts in »echsenleben«. die anverwandlung ermöglicht empathie, und umgekehrt. für echsen im hausgarten, die wie urzeitliche gepanzerte schuppentiere anmuten, mit denen das lyrische ich spricht, wird im gedicht sogar die eigene wohnung geräumt (»trauerbündel«). octavio paz, der meinte, »Doch, man soll Birnen von der Ulme erwarten.«, schrieb in seinem gedicht »Geschichte von zwei Gärten«: »Ein Haus, ein Garten / Das sind keine Orte: Sie kreisen, gehen und kommen, / Ihre Erscheinungen öffnen im Raum / Einen anderen Raum, / Eine andere Zeit in der Zeit.« und »Dem Haus ist eine Schuppenhaut gewachsen.« haus und haut sind etymologisch verwandt. die schuppenhaut als panzer soll, wie das haus, vor der außenwelt schützen.
auffallend bei weimar-mazur ist die häufige hautsymbolik, die ebenfalls auf besondere berührbarkeit, also sensibilität, verweist. häutungen können erneuerungen, verwandlungen und wiedergeburten sein. in »subkutanes« erklärt er: »jeden tag erlebe ich / ein blutwunder meine haut / bricht auf und heraus quellen azurfalter«, was zugleich das aufbrechen von blüten assoziiert. auch falter und falterstaub korrespondieren mit hautempfindungen: »adonisfalter wollen wir sein / auf einem röntgenbild / mit lungenflügeln« (»undulation«).
oft klingt in den gedichten von werner weimar-mazur eine tiefe trauer über den verlust von welt, oder welten, an, die er zu überwinden versucht, indem er dichterisch eine gegenwelt, oder gegenwelten, erschafft. dabei spürt er mit genauer beobachtung und beschreibung den unter der oberfläche, so von haut oder erdkruste, verborgenen magischen realitäten nach. auf diese weise ist er ein romantischer und moderner dichter zugleich. der verleger hans-joachim griebe begründete die annahme des manuskripts von »herzecho – lyrische sonogramme« unter anderem mit dem eigenen, konsistenten und wiedererkennbaren stil der gedichte und damit, dass weimar-mazur mit seiner lyrik im verlag eine lücke fülle »zwischen den "avantgardistischen" und den "konventionellen" Texten – wobei die Anführungszeichen sehr ernst zu nehmen sind.«
schönebeck an der elbe, 31. oktober 2016
holger benkel
herzecho - lyrische sonogramme
Verlag Rote Zahlen, Buxtehude, ISBN 978-3-944643-72-4