2019
luzid
Wir spielten uns selbst und gerieten beim Sprechen in Verse.
(Peter Kurzeck)
die treppenstufen gezählt
21 22 23
die herzschläge
24 25 26
oben angekommen und wieder nach unten
alles noch einmal von vorne
die treppenstufen der herzschlag
am ende die müdigkeit
und schließlich fingen wir an zu leben
im häuserschatten der jordanstraße
schwammen wir stadtauswärts
auf der bockenheimer landstraße
wuchs das gras hoch über den kopf
die menschen sprachen französisch
in unserer botanisiertrommel
nur reste von gräsern und blüten
klack klack klack
schlugen die boulekugeln aneinander
und spritzten in alle richtungen
nach staufenberg lollar gießen
tachau franzensbad frankfurt uzès
wieder einmal standen wir am anfang eines neuen lebens
erst ein regen- und dann ein schneewinter *
viel später der vorige sommer und der sommer davor **
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* aus Peter Kurzeck: Übers Eis, Roman, Frankfurt am Main (Stroemfeld), 1997
** Peter Kurzeck: Der vorige Sommer und der Sommer davor, Roman, Frankfurt am Main (Schöffling & Co.), 2019
nachahmung
der dichter ahmt vogelstimmen nach
……
der dichter ahmt steine nach
……
(aus Zbigniew Herbert, Gleichnis)
ihre textur ist seine handschrift
auf einem blatt des welkenden bergahorns
in seine rinde ritzt er chiffren der zeit
da ist eine klinge aus tönendem erz
die schneidet die glasfaserkabel und kehlen
der braunzungigen und braunzahnigen werwölfe
aus dem osten kommen sie in riesigen rudeln
da ist ein gefäß aus irdenem steinzeug
darin bewahren wir auf die schlagenden herzen unserer feinde
stellen sie aus in museen und liveshows
um nachahmer abzuschrecken
kein gedicht ist die nachahmung des todes wert
lungenfische
messe ich die welt mit dem maß der lungenfische
sind drei nächte noch kein vers
sieben kein gedicht
öffne ich die tür zum totenreich für die stimmen
formen sargnägel einen fluss
heilige finsternis bleibe
verdammte finsternis weiche
atmen die lungenfische die tage
stehen sterne immer am firmament
krümmen sich ihre schatten gegen die unendlichkeit
ewig ist ein kurzes wort
wie viel länger sein sinn
GIWE
kehrst du zurück
in ein trockenes flussbett legen wir uns zu den lungenfischen
und warten auf wasser
dass es benetzt unsere lippen unsere zunge unsere stimme
dass wir singen gegen den sturm
der aus dem felsenschlund kommt
dem menschenschlund
in deinen händen hältst du die enden der welt
gib mir ein leichentuch und ich zeige dir ein grab
atemübungen mit lungenfischen
wir machen atemübungen mit den lungenfischen
survivaltraining im schlamm
was das anbelangt
sind sie uns voraus
mindestens 200 millionen jahre
auch beim totenkult den liedern und gebeten
lungenfische glauben nicht an ein jenseits
eine wiedergeburt oder auferstehung
ewiges leben dauert bei ihnen höchstens 100 jahre
von ihren ahnen haben sie die lungen
und die traurigen augen
tastsinne fallen mir ein
ein wenig Musik zum Abschied wäre trotzdem nett
(Nancy Hünger)
werden begleitet heute von oboen die wörter
fadenscheine in der nacht zwischen straßenbahnschienen
stolpert einer über das kopfsteinpflaster
gucken aus den häusern fenster
aus den fenstern leute
welche leute
haben abgestellt um die hausecken einsamkeit
ein zwei einsamkeiten für jeden
holt sie am morgen vor der ersten dämmerung
im regen die städtische müllabfuhr
lauschst du den klängen der wörter und oboen
die durch die straßen wehen
sich ausruhen in hauseingängen
warten sie auf das ende der nacht
wir tragen eine glut in uns
ein flammendes feuer aus quecksilber
das uns sein lässt
murmelnde nomaden
[tastsinne fallen mir ein
wenn ich mich bewege als schuppentier]
Inskriptionen No. 11 / 2019, Ultra Super Grip
Edition ERATA im Leipziger Literaturverlag (ISBN 978-3-86660-248-9)
enthält zwölf gedichte von mir
für (drei gedichte, gewidmet)
für Jürgen Becker
und
es ist ein gröbkörniger tag
wie sand kies moränen im blick auf den einen schatten
der lange still steht und sich dann
plötzlich bewegt
ums haus
über die straße vor dem haus
bis er weitergeht
in eine andere fotografie
[die im abend verschwimmt
mit deinem eigenen leben]
auf der du keinen mehr kennst
.
für Nicolas Born
unterwegs die häuser alle hatten weiße fenster
gelbe drehkreuze in den scharnieren
eine rote zeichnung unter dem neuen lack
schaut piwitt aus rom herunter auf die straße
ich beobachte die radfahrer mit ihren gefetteten ketten
wie sie am flussufer gegen die strömung fahren
talwärts ziehenden lastkähnen entgegen
beladen mit schwermut die einen
die anderen mit leichtem licht aus den bergen
lang fallen die schatten der lenker und räder
hinaus auf die treibende flut
ich gedenke dem wasser
der stadt
.
für Pier Paolo Pasolini
die zeichnung auf dem käferflügel wies scharfe konturen auf
filmschnitte im grauen chinin
marschierten junge faschisten durch ein drehbuch pasolinis
er schrieb es in erinnerung an ein treffen in weimar
später am strand von ostia
die stelle ist bekannt
fehlte ihm die zeit für ein letztes gebet
[verschwamm im abendhimmel
graues chinin]
Parque De Las Memorias
für Bernardo Serrano Velarde, 1949-2016
ich kam nicht bis Cochabamba
noch nie über das meer
an seine andere seite
nicht über den äquator zu anderen sternbildern
inti heißt dort die sonne
irgendwo im dschungel in einem dorf
haben sie den Che erschossen
vielleicht hörtet ihr denselben wind
dieselben stimmen aus der rinde des quebrachobaumes
die euch warnten weiter zu gehen
du erzähltest mir einmal von der reise der schwäne
sicher sind es singschwäne
ich höre die melodie auf einer knochenflöte
den pullover aus alpakawolle gibt es nicht mehr
irgendwann trug ihn noch meine frau
vientos y rosas nanntest du deine poeme
ich hatte sogar angefangen spanisch zu lernen
einmal im leben wollte ich nach Cochabamba
nach La Paz vielleicht ein stück weit auf den illimani
und um den see
mit einem schilfboot übersetzen in das andere land
aus dem panzer eines gürteltiers weht ein lied herüber
bis in den friedwald nach Cochabamba
du liebtest lieder auf guitarren und trompeten
solche von der mexikanischen art
morgen gleich in der früh
werde ich winde und rosen lesen
die zeit ist die antwort
atomdichter und zungenbecken (canto verbano)
zog hallgrím an den gletscher
und log gedichte
über die geburt der basalte
reiste ugla die henne
im gepäcknetz vom nordland nach reykjavík
kam sie unter die räder eines straßenkreuzers
verlor sie ihr leben
da weinte das wollgras
wir lagen im gletscherbett
an seinem grund schlief der see
die berge ringsum
waren nunatakker
wurden die inseln geschliffen
geschleifte drumlins
trieben mit den booten dahin
tastete ich deinen finerokörper
grünes gestein
das sich geschält hatte aus seinem erdmantel
trug ich stimmen in die wälder
schürfte sich seine haut wund an der erdkruste
lief die schwarze katze von links ins bild
konnte das gedicht gelingen
erweiterte ich meine sammlung um eine muschelschale
legte sie zwischen das pfennigstück
und das welkgepresste
blatt eines bergahorns
wog hallgrím das gewicht des mittelatlantischen rückens
bogaz
wir standen am ufer des bosporus
und blickten hinüber
in das gespiegelte land
dort aßen sie honig und tranken galle
leoparden säumten das ufer
autos hupten und Şirin winkte
einem albatros nach
der schatten seines flügels
streifte ihr gesicht
das wasser sang
und in den wellen verhallten
schüsse aus einem fernen gebirge
teheran
für Granaz Moussavi
eine wegwarte legten sie mir in den mund
die sich verlief
im schatten des waldes
fragte sie einen ziehenden wolf nach dem weg
über den glucksenden fluss sprang das tier mit mir
als sie mich fanden
später
im niemandsland
wunderte sich niemand über das büschel haare unter dem fingernagel
und den fetzen fell in der hand
kabul
wieder für Granaz Moussavi
wir sprachen farsi und schnitten
zweige aus den kirschbäumen
im garten blühten reine verse
auf der straße vor dem haus
ratterte ein alter motorroller
und ahmad schlug auf seinen esel ein
schneeluft wehte von den bergen
sangen mädchen im radio
sirisirin
du bliebst stehen
die menge rannte weiter einer steinigung
hinterher
wir sprachen farsi und schnitten
zweige aus den kirschbäumen
im garten blühten reine verse
ahmads esel hatte sich losgerissen von seinem karren
und blieb stehen vor dem haus
am ende der straße
brachtest du ihm frisches gras
und reine verse
zu nachtschlafender zeit
all over heimat
hrsg. von Matthias Engels, Thomas Kade, Thorsten Trelenberg, STORIES & FRIENDS, Lehrensteinsfeld, ISBN: 978-3-942181-89-1 | Edition MIXED
1
ins zugfenster stellte ich
einen blumenstrauß für dich
und beobachtete wie der regen
dahinter vorbeizog
berge ein see ein fluss ein meer
bildeten die kulisse
ich schlief lang
und erwachte erst im nächtlichen
hauptbahnhof einer stadt
der atem neben mir klang wie deiner
und doch ganz anders
2
wir zählten die autos
die augen der autos
die augen der fahrer
in der nacht
waren spiegelungen
auf dem nassen asphalt
die räder und beifahrer
sangen laut mit
wir wölbten die hand über das land
unsere lebens und schicksalslinie
überspannten die felder und flüsse
graues gestein ragte steil auf
und warf seinen schatten
auf unseren puls
der schlug
wie die flügel der eule in nächtlicher jagd
vorort
auf den straßenbahn
schienen zieht ein zeisig
seine kreise
haltestellen kennt er auf bäumen
wundersam sind die sitten
und gebräuche
in alternden großtädten
gehen greise auf den gleisen
sitzen die jungen in der tram
und zünden sich ein handy an
weimar
weimar drängten kalkstein und mergel in die stadt öffneten sich klüfte und schlossen sich wieder um sich erneut zu öffnen und zu schließen wie der atem der rohre unter den straßen der puls der kabel und leitungen darüber bist du auf dem weg in ein neues leben und ein stück weiter siehst du erdfälle dolinen tagbrüche unter deinen füßen ein wellengebirge zur tiefe am abend war der asphalt weich flüssig wie der boden wie moor schwammen die autos zähltest du die bäume zwischen den häusern im park in schwimmbewegungen die vögel die krähen und zeisige die falter und schwärmer bauten fische nester zwischen korallenbäumen dolomitischen mergeln und tonsteinen bliebst du stehen und drehtest dich noch einmal um zu den schatten die dir von straßenlaterne zu straßenlaterne folgten den stimmen die dich riefen von der anderen straßenseite metallisch klang die nacht unter dem hundsstern tropften die perseiden auf dein kleid
du standst barfuß auf dem kopfsteinpflaster lagen deine nicht ausgesprochenen wünsche
an der kirchturmuhr war ein zeiger gebrochen eine falsche zeit hing über der stadt
im geträumten leben war ich wach
wortschaften wohnen mit buchbaumhecken um die häuser
weimar, 14. mai 2018, 21.52 uhr
DAS GEDICHT blog
Sandra Blume (Hrsg.): Netz-Anthologie "Das flüchtige Schöne einfangen", Folge 3, 30.01.2019
entlasse ich in den abend
eine drohne
eine saxophonsequenz
ein vielversiges epos
über die spannweite der sterne
die vom nahen bergrücken
auf die stadt nieder schauen
war dominique hier
und vor ihm david judith küssend
zum abschied in die nacht
klapperten hufe über das kopfsteinpflaster
knarrten die stahlbänder der wagenräder
um genau vier uhr in der früh
schrie ein pfau
schrie
sang
sang
eine drohne ein saxophon
ein vielversiges epos
in die nacht