2023
[ein land diesseits]
Anthologie zum Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2023
Armélin, Almut / Grasnick, Ulrich (Hrsg.): Zwischen Himmel und Mut. Quintus-Verlag Berlin. (ISBN 978-3-96982-095-7)
Irgendwo erzählt ein kleiner Stein auf einem großen von meiner Anwesenheit.
(Joséphine Bacon)
ein land diesseits
ein land jenseits
gegen das mondlicht der scherenschnitt
eines aufgerichteten bären
der himmel beugt sich tief
über den fluss der klirrt
mein fuß setzt sich in die spur
des scherenschnitts
und geht als seine ahnin weiter
tagenächtelang
höre ich nichts
als den flüsternden wind
er weist mir den weg
zwischen buschwerk und stein
ich schließe die augen
ruhe im gehen aus
und der sprechgesang meiner hände
verhallt in einem anderen land
wie ein kanu
lege ich mich aufs wasser
nur die lachse passen noch
zwischen mich
und den steinigen grund
ich treibe quellwärts
bergauf
gegen die steigung des lichts
im schatten einer flussbiegung löse ich mich auf
die durchtrennung der nabelschnur
Jahrbuch | Lyrik 2023, AG Literatur (Hg.)
Edition Art Science, 10/2023, 166 Seiten, St. Wolfgang, ISBN 978-3-903335-31-8
das garn ist erst gerissen dann ausgegangen
das zerschlissene kleid blieb ungeflickt
maria unbefleckt
denn auch damals hatte das garn gefehlt
joseph kam an jenem heiligen abend
spät nach hause in den stall
das vieh war unruhig wie maria mit den wehen
man stelle sich vor
maria hätte das kind auf einem boot zur welt gebracht
bei der überfahrt von ägypten nach kreta
die drei weisen hätten seefahrer sein müssen
und fangfrischen fisch gebracht
joseph der bootszimmerer prüft die planken
ob sie der rauhen wintersee standhalten
das heilige paar und das heilige kind
schiffbrüchige
angespült als strandgut an minoischen gestaden
und hier kommt ariadne ins spiel
mit ihrem roten garn
weist sie den weg in die höhle
ein ruhiger ein sicherer platz für die entbindung
Für SAID
Sprachland Liebesland (Hg. R. Stolz & H. Tafazoli)
Anthologie über SAID, konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen, Mai 2023 (ISBN 978-3-88769-104-2)
der wolf
brachte die sprache auf deine augen
(SAID: [der wolf]. Gedicht. 2007)
ich überwintere in deiner sprache
friere ich nicht
deine hand greift hinein
in das flüstern die stimmen
bewegt der mond der stille
die meere
hörst du im stadtpark
am weiher das brechen des eises
jede rinde trägt eine spur
schnee den du nicht gehört hast
durchs windland ziehen traurige gestalten
und der wind geht durch sie hindurch
mollusken sind treu
wie alte gewohnheiten oder krankheiten
pflügen schleppnetze
vers für vers in den grund des meeres
mollusken sind bekannt
für ihren sinn für schönheit
du führst zwei leben
eines für die träume
und in einem anderen lernst du lesen und schreiben
denken sprechen
durch deine verse bist du mir nah
als ob wir uns gegenübersitzen und miteinander sprechen
aus dem maulbeerbaum kommt eine stimme
dünne fäden aus einem anderen reich
alles wölbt sich auf
über die horizontlinie am ende des meeres
gedichte luftspiegelungen
in der schimmerung des nachmittags
der durst nach dichtung ist gestillt
den schlaf mohn bringe ich mit
vergiss nicht zu atmen
vergiss nicht
vergiss
die todeskraft des schreibens
Teheran, das heißt, mein Lächeln ist Wunde.
(Pegah Ahmadi: Mir war nicht kalt. Gedichte.
Aus dem Farsi von Jutta Himmelreich. Bremen, 2011)
_______________________________________________
Der Himmel
will die Zeit vergessen haben,
da du sein Gast warst.
(SAID: Sei Nacht zu mir. Gedichte. 1998)
wenn die blätter
sich anfühlen wie liebesgedichte
beschreiten mit ihren gaukelflügen feuerfalter
die bewegungen des liebesspiels
flattern bläulinge
ins porzellanweiß des auges
legt der schmetterlingsmann
seinen trauermantel ab
steigen am östlichen himmel
aurorafalter auf
kann ich mich nicht sattessen an den feigen
nicht sattsehen an den tulpen
und mädchen
schmücken die gärten mit kräutern
Die Welt ist aufs Wasser gekippt und zerflossen.
Ich streue Erde aus, um sie hinter mir zu lassen.
(Pegah Ahmadi: Mir war nicht kalt. Gedichte.
Aus dem Farsi von Jutta Himmelreich. Bremen, 2011)
_______________________________________________
Jeder Ort ist zufällig –
Bis auf deinen mund,
der empfängt
und sich nach einer mündung
ohne splitter sehnt.
(SAID: Aussenhaut Binnenträume. Gedichte. 2002)
nacheilen
den zerfließenden stimmen
wem würde es auffallen
wenn der dichter ein paar schritte vorausgegangen ist
und sein gedicht noch bei uns bleibt
in seiner sprache
die wir vernahmen
als er bei uns stand
kein wort kein komma
wird mehr geändert
denn das gedicht spricht weiter
und der dichter schon
mit anderer stimme
einer leiseren
geflüsterten
die auch am firmament die weißen vögel
über dem verlorenen land der kindheit vernehmen
Atme.
Wieder ist die Luft eine dünne Übersetzung.
(Pegah Ahmadi: Wucht. Gedichte.
Aus dem Persischen übertragen
von Jutta Himmelreich. Bremen, 2018)
Dreimal für SAID
der wolf
brachte die sprache auf deine augen
(SAID: [der wolf]. Gedicht. 2007)
ich überwintere in deiner sprache
friere ich nicht
deine hand greift hinein
in das flüstern die stimmen
bewegt der mond der stille
die meere
hörst du im stadtpark
am weiher das brechen des eises
jede rinde trägt eine spur
schnee den du nicht gehört hast
durchs windland ziehen traurige gestalten
und der wind geht durch sie hindurch
mollusken sind treu
wie alte gewohnheiten oder krankheiten
pflügen schleppnetze
vers für vers in den grund des meeres
mollusken sind bekannt
für ihren sinn für schönheit
du führst zwei leben
eines für die träume
und in einem anderen lernst du lesen und schreiben
denken sprechen
durch deine verse bist du mir nah
als ob wir uns gegenübersitzen und miteinander sprechen
aus dem maulbeerbaum kommt eine stimme
dünne fäden aus einem anderen reich
alles wölbt sich auf
über die horizontlinie am ende des meeres
gedichte luftspiegelungen
in der schimmerung des nachmittags
der durst nach dichtung ist gestillt
den schlaf mohn bringe ich mit
vergiss nicht zu atmen
vergiss nicht
vergiss
die todeskraft des schreibens
Teheran, das heißt, mein Lächeln ist Wunde.
(Pegah Ahmadi: Mir war nicht kalt. Gedichte.
Aus dem Farsi von Jutta Himmelreich. Bremen, 2011)
_______________________________________________
Der Himmel
will die Zeit vergessen haben,
da du sein Gast warst.
(SAID: Sei Nacht zu mir. Gedichte. 1998)
wenn die blätter
sich anfühlen wie liebesgedichte
beschreiten mit ihren gaukelflügen feuerfalter
die bewegungen des liebesspiels
flattern bläulinge
ins porzellanweiß des auges
legt der schmetterlingsmann
seinen trauermantel ab
steigen am östlichen himmel
aurorafalter auf
kann ich mich nicht sattessen an den feigen
nicht sattsehen an den tulpen
und mädchen
schmücken die gärten mit kräutern
Die Welt ist aufs Wasser gekippt und zerflossen.
Ich streue Erde aus, um sie hinter mir zu lassen.
(Pegah Ahmadi: Mir war nicht kalt. Gedichte.
Aus dem Farsi von Jutta Himmelreich. Bremen, 2011)
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Jeder Ort ist zufällig –
Bis auf deinen mund,
der empfängt
und sich nach einer mündung
ohne splitter sehnt.
(SAID: Aussenhaut Binnenträume. Gedichte. 2002)
nacheilen
den zerfließenden stimmen
wem würde es auffallen
wenn der dichter ein paar schritte vorausgegangen ist
und sein gedicht noch bei uns bleibt
in seiner sprache
die wir vernahmen
als er bei uns stand
kein wort kein komma
wird mehr geändert
denn das gedicht spricht weiter
und der dichter schon
mit anderer stimme
einer leiseren
geflüsterten
die auch am firmament die weißen vögel
über dem verlorenen land der kindheit vernehmen
Atme.
Wieder ist die Luft eine dünne Übersetzung.
(Pegah Ahmadi: Wucht. Gedichte.
Aus dem Persischen übertragen
von Jutta Himmelreich. Bremen, 2018)
jährungen 100/50
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
Die Zeit kehrt zurück in die Schale.
(Paul Celan, Corona, in: Mohn und Gedächtnis, Gedichte, Stuttgart, 1952)
es tut gut
nach einem todeszyklus wieder ein gedicht
über das leben zu schreiben
zehn gedichte über die zehntägige reise eines leichnams in einem fluss
über eine strecke von zehn kilometern
vom pont mirabeau nach courbevoie
und zehn tage später weiter nach thiais
sind zu viel
der erste tag im toten winkel
der erste kilometer
ist der schwerste
der tod zählt nicht rückwärts nicht vorwärts
alles sterben geschieht gleichzeitig
in diesen fluss passt kein langgedicht
kein blick nach einem fisch
keine hand die den aal fängt
der sich windet mit dem fluss
streift deine stimme das wasser
dieser fluss fließt
von der mündung zur quelle
ein nebenfluss nur
er endet
an seiner quelle
deinem meer
Stillbruch
Der dritte Tag
In Dinan
Regen und Mittelalter
Die Stadt schläft auf Mauern
Am Ufer lege ich mich
Zu den Schiffen
Fließt Kopfsteinpflaster
Erbuntet das Wasser
Steine kommen
Ins Rollen das Jahr treibt
Im Gefälle Nacht
Tastet ans Tor
Mit einem Ring schwarz
Lackierten Nägeln von Hand
Lange geschmiedetes
Eisen klopft
Auf Holz
Das oben stehende Gedicht "Stillbruch" ist eine Gemeinschaftsarbeit des Autor:innen-Teams DREIKLANG (Franziska Beyer-Lallauret, Odile Endres und Werner Weimar-Mazur).