2022
fährtenlesen
Feldkircher Lyrikpreis 2022
Erika Kronabitter (Hg.), Edition Art Science, St. Wolfgang (ISBN 978-3-903335-24-0)
der Küchentisch
hierhin lege ich das Phantombild meiner Kindheit
(aus Dinçer Güçyeter: Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Gedichte. Nettetal (Elif Verlag), 2021)
den windhundspuren bin ich gefolgt
bis der wind in sturm überging
und aus dem hund ein wolf wurde
knickten wir bäume
und rissen schafe
immer auf der flucht vor den jägern
flüchteten wir uns in die städte des nordens
nahe den eisrändern den gletschern
längst vergessener zeiten
eine ungünstige meeresströmung trieb uns ab
wie die mütter die föten abtrieben
die vorgeburt auf eine ägäische insel warfen
oder ins marmarameer
dieses weihwasser zwischen zwei erdteilen
mutter wusch darin wäsche
ich aber verspielte mein talent
in flipperautomaten
in den stillgelegten fabriken
die mir heimat wurden lager
für die nacht
an vorbildern mangelte es nicht
die alten geschichten waren voll
von mördern zuhältern und edlen kaufleuten
auch ein sultan der sein volk köpfen ließ
fehlte nicht
die windhunde sind müde geworden von der hatz
der wind lau
die wölfe grau und zahnlos
eis und gletscher geschmolzen zwischen meinen schenkeln
nur das marmarameer schwemmt weiter blut an die küsten
YouTube-Video "fährtenlesen"
phönikischer sommer
Feldkircher Lyrikpreis 2022
Erika Kronabitter (Hg.), Edition Art Science, St. Wolfgang (ISBN 978-3-903335-24-0)
jahr für jahr
zieht sich die tethys weiter zusammen
der im meer umherirrende held der troja bezwang
wurde aufgegriffen
in den hoheitsgewässern vor lampedusa
die schönsten sind die mädchen von gozo
ihr ebenholzschwarzes haar
fiel auf des helden brust
als er lag in der bucht der kalypso
Ạndra moi ẹnnepe, Moụsa, polỵtropon, họs mala pọlla
plạnchthē, epeị Troiẹ̄s hierọn ptoliẹthron epẹrse
Sage mir, Muse, die Thaten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung
und trug den geschmack heimischer quellen und kräuter
noch lang auf den lippen die küsse der frau und geliebten
in den lagern das essen war schlecht und verdorben
das wasser vergiftet
am grunde des meeres bebte die erde
in wellen legten sich fels und gebirge
laven flossen aus den mäulern der höllen
ihre dämonen trugen uniformen gewehre
nahmen die personalien auf
und stellten papiere aus für die rückkehr
keiner
aber auch wirklich keiner
vermochte zu sagen zu singen ein ende
irgendwann würde die tethys zu einer linie
am ende zu einem punkt
im porzellanweiß des auges
cordieritblau
einen sommer lang tauche ich ins meerauge
einen winter lang
ins jahrbuch der hoffnungen und erfüllungen
an dem ich weiter schreibe
ein lebenlang
cordieritblau sauge
aus den stunden der kindheit
als die sprache einfach war
die stimme immer die eigene
verschwiegenheit
was wusste ich
über sonnenwinde
die wanderungen der polarbären übers packeis
über die anhäufungen der moränen
die geschiebe das toteis
die rückkehr der schneelöwen schneeleoparden
und schneekraniche
was wusste ich
und was wussten die gletscherzungen
über mich und meine sprache
in die schlafplätze fiel licht
im bärenland ging ich um
im land der moschustiere
in den südlichen städten ohne u-bahnen
in den östlichen mit trolleybussen
lange briefe schrieb ich dir
stellte bilder ins netz
auf denen ein zilpzalp sang
und ein bläuling aufflog
aus einer bergwiese mit wildem kümmel und anemonen
nie erhielt ich eine antwort von dir
die blaubeeren waren reif
die zirbelkiefern lieferten nüsse
braunes wintergras und frisches sommergras
färbten die landschaft
die pappelsamen stiegen mit dem wind
über die berge
flüsse versanken in schluchten
metropolen füllten sich mit menschen
ich schrieb dir lieder
sang mit den lerchen im feld
im regen stiegen die götter herab
von ihren wolken
und setzten fuß auf dunkle feuchte erde
einen schlafplatz für die nacht
wollten sie suchen
die flut stieg an
und ich schrieb dir ein letztes mal
eine flaschenpost
die dich nie erreichen würde
mit ihr trieben die götter hinaus aufs meer
schau
im frühen sommergewirr
die straßen trugen tau
und käfer zogen spuren
auf asphalt
ich schlief du liefst
durch häuserschluchten und den park
den totgesagten der frisch und grün
im dunst und staub der stadt erwachte
nur autos lagen stumm im hafen
die schiffe waren fort bei ihren ahnen
ich schlief du sprachst
mit andren stimmen die auch so früh
zur arbeit liefen
wehe wind wehe
vergiss odysseus nicht und nicht
eurydike die orpheus nur von hinten kannte
hadesgesänge fließen durch die kanäle
abwässer glucksen zum klärwerk
die subway quietscht sich vorwärts
durch den schlamm
vergiss nicht telemach penelope
die ithaka durchschreiten
im frühen sommergewirr der zikaden
ihr ton schmerzt lang
die fensterscheiben zittern noch
vom knall der urgewalten
[du summst dein lied
ich werde traurig]
die straßen tragen tau im ersten sonnenlicht
lang spannte die stadt ihren bogen
aus lichtverschmutzung
übers land
das zweite ende des winters
Anthologie zum Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2022
Armélin, Almut / Grasnick, Ulrich (Hrsg.): Fessel und Flügel. Quintus-Verlag Berlin. (ISBN 978-3-96982-058-2)
den schnee in deinen gedichten
habe ich beiseite gewischt
auch die trauer über buchfinks tod
las ich ihn gestern noch
draußen im garten unter der ulme
bei den winterlingen ihre kragen
ragten hervor unter dem gelb
der sonne
fahles licht schien
und du mit deinen augen
aus porzellan und kohle darin
in den särgen lagen die kinder probe
und lachten und sangen und lachten
bis die nachbarn kamen
und immer noch als sie gingen
doch dann herrschte stille
das land lag im dunst
diesige tage
froren und zitterten und froren
die käuze drüben im hohlen baum
register der halbseidenen zeit
1
ich sammle lebenslügen und todeswahrheiten
ich weiß nicht
welche mir lieber oder unlieber sind
teurer oder unteurer
un
es kommt mir spanisch vor
josé
lautsprache
lautmalerei
leises bild
leises buch
leben und lügen
sterben und die wahrheit sagen
ich kann es mir
(nicht immer)
aussuchen
2
einfinden
am morgen bei sonnenaufgang
verschattet das tal die landschaft
3
der strand und die normandie
verschmelzen zu einem meer aus kreidefels
und hinterland
die gotische kathedrale in rouen
4
flüchtige ein und aus drücke
während einer flussfahrt
das schiff treibt mit der strömung
5
städte dörfer und immer wieder landschaft
6
zurufe winken
ich verstehe kein wort
bin fremd bleibe fremd
ich verstehe nur die arbeit auf den feldern
kenne die geräusche der landmaschinen
unterscheide zwischen traktor grasschneider
mähdrescher heuwender
und den vorbeifahrenden autos
7
lebenslügen todeswahrheiten
von allem ein bisschen
meine sammlung wächst
mit jeder reise
8
fern der bekannten sprache bin ich
immer mehr auf mich selbst gestellt
9
vor:laut
nach leise
kam die sprache
im anfang war
10
einsilbig keit
[der amelia earhart pfannkuchen]
Der Amelia Earhart Pfannkuchen
Lyrik-Anthologie, Herausgegeben von Timo Brandt und Petrus Akkordeon, Mit Zeichnungen von Petrus Akkordeon, Moloko Print 147 | 2022, ISBN 978-3-948750-52-7
auf auf
zieht euch gut an
es geht zum sterben
1
ich werde ein apfelbäumchen pflanzen
oder ein federbett kaufen
bellt der hofhund an der kette
und pechmarie eine zweite chance geben
2
die erde hat zwei pole
nord und süd
heiß und kalt
hell und dunkel
die liebe hingegen hat drei
äquatorialafrika
lauwarm
und dämmerung
3
lithium
tief ins fleisch
die steine sind unser meer
schillerndes inferno zwischen den jahren der müdigkeit
4
ich bewohne verse
als würde ich in ihnen schutz finden
ich bewohne stimmen
deine tröstet mich
über den verlust der steine
sprachen wir lang
und blickten hinaus
auf ein felsenmeer
wir sind versuchsflächen
für abziehbilder
die lanze der lyrik ist gebrochen
le quattro stagioni
der herbst heißt es
sei die schönste jahreszeit
andere sagen der frühling
im sommer neigen sich die bäume zu den wassersportlern
und der schnee im winter ist das allerbeste
weil er taut
wieder verschwindet
leise
wie er gekommen ist
weimar, 14. mai 2018, 21.52 uhr
entlasse ich in den abend
eine drohne
eine saxophonsequenz
ein vielversiges epos
über die spannweite der sterne
die vom nahen bergrücken
auf die stadt nieder schauen
war dominique hier
und vor ihm david judith küssend
zum abschied in die nacht
klapperten hufe über das kopfsteinpflaster
knarrten die stahlbänder der wagenräder
um genau vier uhr in der früh
schrie ein pfau
schrie
sang
sang
eine drohne ein saxophon
ein vielversiges epos
in die nacht
troja
über die gefalteten dächer
wirft der krieg girlanden
ayhan schläft seit tagen
ziehen schillerfalter ins gebirge
liegen tarnnetze über karawansereien
und in den ebenen flugabwehrraketen
ayhan geht im traum
nackt zwischen soldaten
schläft der halbmond
hören schmetterlinge
flüsternde stimmen in den bergen
drängen truppen
von allen seiten gegen die stadt
auch vom meer
täuschen weiße segel frieden vor
rudert ayhan ihnen entgegen
in simulationen
fällt soldaten das töten leicht
im häuserkampf richten sich die gefalteten dächer
noch einmal auf
später werden die dichter des landes
die schönheit der berge besingen
doch die schillerfalter kehren nicht zurück
die wanderbewegungen des todes
stimmen wandern
und die tiere ihnen voraus
die auf einer bahre getragene
stimme des todes
durch das tor betrat sie die stadt
ging betteln in den straßen
bis die menschen ihr gaben
alles geld allen reichtum alles glück der welt
aus dem land der löwen
zogen löwenmenschen nach norden
in kalksteinhöhlen in einem kalten land
zu den bären und tigern
den rehen hirschen und eisvögeln
jagten sie den schnee
in die weiche haut des todes
sinken stimmen
erst kommen die versteppungen
dann die verwüstungen
die spielenden augen der kinder
das gras war schon fort
das zittern in der stimme kommt
von den einschlägen
erklärt er uns
in der stadt wächst die angst
fluchtgedanken nur wenige
wollen bleiben und sterben
es ist ein bisschen wie früher
im winterkrieg
nur dass der schnee langsam taut
die angreifer einmal brüder und schwestern waren
der wald bietet keine
verstecke mehr
sagt er uns und wendet den blick
zu boden
der einmal muttererde hieß
und alle ernährte
wir könnten singen schlägt er uns vor
aber das hilft nicht gegen sterben
und auf einmal singen wir
vom himmel über den kornfeldern
von den kosaken
die ihre mädchen verließen
falken flogen über die dörfer
und schlugen tauben
schöne hinter den bergen hinter dem meer
leuchtet die freiheit
und die augen der kinder spielen weiter
mit dem lange verschwundenen gras
die augen des despoten
gespiegelte landschaften gespiegelte städte
echoräume für die stimmen
und die toten
eine liste von namen
keine gräber keine grabsteine
und die augen haben arme
hand
langer
an die verlassenen strände
spült sein letzter speichel
den leichengeruch der geschichte
den entkommenen
bleibt einzig die atemlosigkeit
Kyjiw
das letzte grün des abendhimmels durchschritt
den schallkegel des sirenengeheuls
auf den straßen die menschen rannten
hinterher
war nur noch stille
und stimmen aus dem off hoben an
zu grünen gesängen
bis weit in die nacht
schüsse raketeneinschläge in die vielen zuhause
erst am morgen erstarben die stimmen
ares persönlich war vorgerückt
zu wüten
der krieg ist der vater aller dinge heißt es
und er zeugte kinder mit hässlichen antlitzen
die den fratzen von despoten glichen
die stadt war ausgelaufen
ihr blut rann durch die straßen
schwappte über die ränder
durch die tore hinaus auf die felder
legte sich ein meer aus schatten übers land
Ще не вмерла Україна
noch ist die Ukraine nicht gestorben
ich gehe allein über eine straße aus zeit
lemuren drehen die sanduhren um
welt verrieselt
Ukrajina
das buch des lebens ist leer geschrieben
jetzt beginnt das buch des todes
wir haben die traurigkeit erkannt
sie kam nicht in einem gedicht
wir haben die trauer erkannt
sie kam in einem krieg
gegen ende des winters
es wollte bald frühling werden
das eis der flüsse und auf den bergen
begann zu schmelzen
die bären hielten noch winterschlaf
nur einer erwachte vor der zeit
begann vor der zeit sich neuen speck anzufressen
fraß menschen
er fand sie im südlichen land gegen das meer
er wütete in den städten
und auf dem flachen land
und für die traurigkeit und die trauer
fehlten auf einmal die worte
es gab keine gedichte mehr
kein lachen
spiegelte sich im klaren schmelzwasser der bäche
ich höre jetzt auf zu schreiben
höre auf zu singen
beginne
zu schreiben
zu singen
die farben des korns und des himmels verblassen
nicht
wir hatten worte als währung
und bezahlten mit versen
unsere gärten blühten und trugen reichlich früchte
auf der schwarzen erde
wuchs etwas wie vertrauen
die züge und busse holten die menschen
fort vom flachen land in die städte
weit weg in fremde flache länder
wo sie gemüse ernteten für ihre neuen herren
die worte und verse verschwanden für geld
singe Halyna singe noch einmal
das lied der sümpfe Polissja
der wilden pferde die am flussufer grasten
auf den hügeln wiegte sich das licht im wind
eines tages
werden die panzer verschwunden sein
die raketen verstummt
der schutt in den städten fortgeräumt
und neue leben wieder aufgebaut
bis dahin füllen wir unsere leeren kammern
mit tränen
alle flüsse fließen in ein schwarzes meer
und mit ihnen unsere schwarze erde
.
(geschrieben vom 24. Februar bis zum 2. März 2022)
erst kommen die versteppungen
dann die verwüstungen
die spielenden augen der kinder
das gras war schon fort
das zittern in der stimme kommt
von den einschlägen
erklärt er uns
in der stadt wächst die angst
fluchtgedanken nur wenige
wollen bleiben und sterben
es ist ein bisschen wie früher
im winterkrieg
nur dass der schnee langsam taut
die angreifer einmal brüder und schwestern waren
der wald bietet keine
verstecke mehr
sagt er uns und wendet den blick
zu boden
der einmal muttererde hieß
und alle ernährte
wir könnten singen schlägt er uns vor
aber das hilft nicht gegen sterben
und auf einmal singen wir
vom himmel über den kornfeldern
von den kosaken
die ihre mädchen verließen
falken flogen über die dörfer
und schlugen tauben
schöne hinter den bergen hinter dem meer
leuchtet die freiheit
und die augen der kinder spielen weiter
mit dem lange verschwundenen gras
hämatologie
die blutung weitete sich aus
irgendetwas stimmte nicht
mit den thrombozyten der gerinnung
europa verblutete innerlich
die hämatologen und politiker waren machtlos
Jahrbuch | Lyrik 2022, AG Literatur (Hg.)
Edition Art Science, 09/2022, 142 Seiten, St. Wolfgang, ISBN 978-3-903335-23-3
fährt der zug durch burma
wo liegt das ist nicht
korrekt heißt es heute
myanmar
klingt nach meer
fährt der zug durchs land
auf den schienen sitzen
kleine insekten und große echsen
wenn sie nicht aufpassen
vibrieren die schwellen
zittern vor lust
menschen
sitzen menschen im zug auch der lokführer
ist ein mensch
auf den schienen sitzen menschen
passen auf
das vibrieren der schwellen
bis zum letzten moment
spüren sie
den bremsenden zug