2021
mein gedicht
Anthologie zum Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2021
Armélin, Almut / Grasnick, Ulrich (Hrsg.): Zuflucht zum Meer. Quintus-Verlag Berlin, 2021 (ISBN 978-3-96982-034-6)
mein gedicht liegt am meer
wie rijeka oder valparaíso
oder wie odysseus lag in der bucht mit kalypso
und streckt seine verse ins wasser
singt am abend leise mit der brandung
wind und sand und steine und felsen
können ihm nichts anhaben
mein gedicht liegt am meer
wie strandgut
wie ein auseinandergebrochenes schiff
gerade geplündert von strandräubern
fischer rudern in offenen booten hinaus zum fang
nicht alle kehren zurück
mein gedicht träumt
von einer langen reise zu den inseln
aus einem ziegenmeer eine ziegenbrandung
1
das bambusmatte grün des wassers
das kalkhelle leuchten und die musik der inseln
hier hatte einst ein gott seine augen im spiel gehabt
und eine göttin war an land gestiegen
mit der selbstverständlichkeit heutiger kreuzfahrttouristen
die nach einem sturm
einem beben am meeresboden
anlanden
erzähl mir von den ertrinkenden und ertrunkenen liebchen
die das sichere eiland nie erreichten
nicht die götter und göttinnen
es sind die fische die überleben
2
leer sind die straßen und flugbahnen am himmel
angefüllt mit den spuren der vögel und insekten
die aus ihren gräbern herunterschauen
auf ausgestorbene städte
leise weht ein luftzug aus den flügeln
er legt sich über das letzte elektrische flimmern des tages
einst gab es stimmen
sie sangen und lachten mit dem licht und den liedern
3
kreuzen inseln vor den festlandsockeln
den sagenumwobenen und umkämpften kolonien
die abtrünnig geworden waren
abtrünnig
vom glauben
von den herrschaften der zentralgestirne
den göttern und göttinnen
die lange zeit schützend lieder über sie gehalten hatten
4
die schmetterlingsgleichen geschichten die symmetrien
von schwarz und weiß die spiegelungen
licht in schatten schatten in licht
und immer wieder die stimmen
zarte hallräume innen
außen
die pflanzen die tiere die pilze
nie erscheinen menschen geistwesen halb
göttinnen götter
in den am strand verlorenen versen aus einer anderen zeit
5
vergiss alles was du gelernt hast
über relativitätstheorien physikalische halb und vollräume
ein relativistisches weltbild
das es nie gegeben hat
6
blau lagert sich ab neben den eingängen
zu den unterwelten
den himmeln
den verlassenen städten mit den löwentoren
den labyrinthen unter den palästen
der musiker der sängerinnen der chöre
der rachegöttinnen
die lange lange regiert haben
7
blau füllt die adern der nachtschatten
gewächse der langstieligen lieder
trauer und lobgesänge zugleich
die gesetze der physik werden außer kraft gesetzt
die kometen asteroiden interstellare materie verlassen ihre bahnen
und nehmen kurs auf die bruchstellen am meeresboden
aus denen fische klänge schwimmen
stranden in deiner hand
8
in deinem kehl
kopf
deinem sternum
deinem an und abschwellenden brustkorb
9
streichen die nächte deinen rippenbogen
bis er klingt
[über rijeka und andere inseln]
Jahrbuch | Lyrik 2021, AG Literatur (Hg.)
Edition Art Science, 10/2021, 184 Seiten, St. Wolfgang, ISBN 978-3-903335-14-1
für Lika Kevlishvili
lass das meer schweben
über der stadt den kirchturm
sich spiegeln im himmel
vergiss die straßen die boote die vögel die fische
die menschen die menschen
in ihren schaukelnden träumen
von haus zu haus die stimmen
vom markt atmen wasser atmen salz
die muscheln verstecken sich auf den dächern
sag mir einen schönen satz von deinen kindern
sie sitzen wie spatzen auf der kaimauer am hafen
und schauen den autos nach
die fliegen die schwimmen
hin und her zwischen den sprachen
den stadtteilen über den menschen
erzähl mir von deiner reise
wie du kamst aus einer anderen stadt
wie du gingst zu den herbstzeitlosen
in meiner brusttasche die schwerkraft
dröhnte der letzte sirtaki aus den bars der plaka
mitte oktober
es war das ende der saison
die stadt das land im wachwechsel
auf dem großen platz
syntagma
immer dieselbe zeremonie
die stadt lag wund
sie hatte sich gerieben an gewalt
ihre rinde war blutiger schorf
die vorgeschichte ist bekannt
mordende könige und königssöhne
schleifungen inzest und kindsmörderinnen
waren an der nachtordnung
aus dem leben einer steinkäuzin will ich noch erzählen
athene noctua
die kleine nächtliche jägerin hatte nie affären
die gefährtin pallas
mutter unbekannt
starb durch sie
beim schwertspiel
die ersten graugänse erreichen bad doberan
auf den atem folgen die traurigen lieder
ich kannte meinen vater kaum
ein geschwungenes L lag
unter anderen zeichen
lagen sie alle verstreut im raum in der landschaft
wie die letzten überbleibsel
eines nachlasses vom herbst
zu erben gab es da nichts
mehr
nur ein paar lieder erinnerten noch an einen alten wandschrank
in ihm bewahrte mein vater seine gartengeräte auf
hacke spaten eine schere zum schneiden von ästen
und ein schuhkarton voll mit gedichten
die das licht für ihn gesammelt hatte
der schnee der regen das eis
ein ganzes leben lang
mutter kam darin nicht vor
auch ich nicht
über ein paar seiten strand
weißer sand vor einem leichten abhang
übersät mit blühendem ginster
sogar das schlagen der wellen war zu hören
von stadt zu stadt von arbeit zu arbeit
zogen die bienen die stare
das grau eines nebligen januartages
autos huschten vorbei an einem funkmast
die stationen der s-bahn die aus der stadt fuhr
lernte ich auswendig
manchmal sage ich sie auf
wenn dämmerung aufzieht
oder eine sirene aufheult
auf einem abgerissenen schulhaus
auf einem gesprengten bunker aus dem letzten krieg
es roch nach nacht
nach fisch
eine fliege verschluckte die farben
Moria | Greifswald (chant noir)
Und bey den liechten Sternen stehen
Anthologie mit Gedichten zu Sibylla Schwarz‘ 400. Geburtstag, herausgegeben von Berit Glanz und Dirk Uwe Hansen, Verlag Reinecke & Voß, Leipzig, Mai 2021 (ISBN 978-3-942901-46-8)
για την Σιβύλλα
Du meinst, ich solle deiner gedenken und dich lieben?
Auch wenn du mich verlässt, sei nicht so toll!
Ich habe dir schon oft zuvor geschrieben:
Dass niemand Eisen, Stein und Klötze lieben soll.
(adaptierte Übertragung, Sibylla Schwarz: Epigramma)
rudere mit mir zur insel liebchen
wo die boote nicht festmachen dürfen
im nächsten leben werde ich wiederkehren
als ein strand für die boote vom festland
die wellen eines südlichen meeres dringen in mir vor
trunkene burschen und schlaue mädchen
wiegen sich in den armen des windes
heben sie an zu gesängen
einer anderen zeit
alles ist schön alles ist neu baby
wenn du die augen schließt
komme ich auch am tag
fühlst du die nacht
die kanonenboote sind lange schon abgezogen
der meeresgott selbst hat sie befohlen
warte nicht auf mich
rudere weiter in ein anderes meer
ein grünes
mit gold an den küsten
erstarrt sind die käfer die fliegen
lass sie schlafen neben findlingen
aus nordischem granit neben gräbern
sticht mein vater aale
rudern wir ihm entgegen
toteis legt sich neben die stadt
schmiegen wir uns an seine lenden
schlage deinen leib gegen meinen
wie das wasser schlägt gegen die kaimauer
zum geschrei der raubmöwen
zum geschrei der ertrinkenden
vom grund steigen schmerzen auf
im schlamm ist es kalt
reiben wir uns wund an der zeit
[in der bewertung später heißt es
es war krieg]
nachts gehe ich raus
nachts gehe ich raus
wenn keine bahnen mehr fahren
stelle ich mich stundenlang an eine station
manchmal wird einer erschossen
oder eine vergewaltigt
manchmal passiert gar nichts
dom
Krakau war morgens bewölkt, die Hügel dampften.
(Adam Zagajewski: Der Koffer. in Asymmetrie, Gedichte, aus dem Polnischen
von Renate Schmidgall, Krakau/München, 2014/2017)
wir hätten in krakau bleiben können
aber wir wollten ins salz von wieliczka
später weiter nach zakopane und an den dunajec
wir hielten die zeit an
das licht über den beskiden und der tatra
wir erinnerten uns
an die tuchhallen
die kirche
den drachen in seiner höhle unter dem burgberg
wawel
das ufer der weichsel
wir dachten an kopfsteinpflaster
oder einen schlafenden ritter
der motor des wagens stotterte
ein paar polnische wörter hinaus in die nacht
hier muss es gewesen sein
wo die pferde gelahmt hatten
beim rückzug einer ganzen armee
am himmel kreisten kraniche und flugzeuge
in der stadt panzer
die bewegungen glichen wellenbewegungen
glichen flucht
mädchen sangen
die burschen grölten
ein vorhang aus wasser licht und luft
legte sich über die landschaft
irgendwo blökten schafe rinder wieherten pferde
das gras war vergiftet die weiden die brunnen
auf den anhöhen gab es stellungen mit flakgeschützen
luftabwehrraketen
irgendwo in den wäldern herrschte krieg
und plötzlich wurde es still
gott hörte auf zu zählen
veronika schlief
die züge standen
die steine schwiegen
wenn es eine auferstehung gibt dann
genau hier
genau jetzt
aber das sind nur geschichten die schon lange niemand mehr glaubt
ich habe von einer frau gelesen
dass sie durch seine straße gegangen war
stehengeblieben vor seinem haus
sich aber nicht getraut hatte
hinein zu gehen ihn zu besuchen
jetzt ist er tot
heute nacht wird die zeit umgestellt
[geschrieben waldkirch, 27. März 2021]
februar zehnter und elfter
In jenem Winter war ich von einer gestaltlosen Wut gepackt. Ich werde nicht sagen, welcher Art, nicht davon will ich erzählen. Nur muß ich sagen, daß sie gestaltlos war, nicht heldenhaft, nicht feurig; irgendwie galt sie der verlorenen Menschheit.
(Elio Vittorini: Conversazione in Sicilia. dtsch. Gespräch in Sizilien. 1941/1977)
es liegt ein zauber auf diesem land
und der schnee geht nicht / wie er gekommen ist
zurück in die erinnerung / rufe ich die namen / von voodoo-puppen
und wir / sind still / ringen nach worten / für einen vers
ein gedicht
alles ist nur noch erbärmlich
peitscht der winter den schnee ins land
laut / läuten
die schneeglocken / zum lockdown
meine puppe trägt hosenanzug
ihr ende ist vorhersehbar / im herbst
wird auch sie zu den privilegierten gehören
politische lyrik / geht anders!
da ist eine gestaltlose wut
alles färbt sich rot / brennt
die haut schält sich / schuppt / am ganzen körper
ich bin autoimmun / fresse mich durch mich selbst / jeden tag ein stück / mehr
und am morgen legt sich blutiger tau auf den schnee
die hände nehme ich mit wenn ich gehe
ins land der körperlosen
die ungeschriebenen bücher
wenn ich zurückkehre / ohne hände
bekanntes und lupinen
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.
(Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit, Gedichte, München 1957.)
die zeit für heitere verse ist vorbei
die lupinen sind gelöscht
die stimmen
diese findlinge des himmels
in die erdenschwere entlassen
basaltsäulen sind die engel
gletscherzungen ihre gewänder
schmutzig vom moränenschutt
und dann und wann
in das laute knacken brechenden eises
dringt der helle ton
eines regenpfeifers
sammelt moose und flechten
ihn zu betten auf unserem grab
seesure | korrespondenzen
Ich bin an einem See geboren worden,
also mußte ich früh schwimmen lernen.
(Barbara Frischmuth, in Das kleine Mädchen das ich war. Herausgegeben von Ingrid Strobel, Köln, Emma Frauenverlag, 1982.)
[zensus 1991] erkennungsmerkmal
muttersprache ungarisch
vaterlos die lilien
nur mütter hüten das feuer
der see schwappt
gegen die felsen
du schwimmst
mit den wasserschlangen
beim schwimmen entdeckst du
deinen abhanden gekommenen körper wieder
aus deinem haar weht der wind
des durchfahrenden schnellzugs
eine locke
in deine stirn
[ ] die nacht scheint ins haus
und füllt es mit dunkelheit
mondsucht taumelt
von tür zu tür
eine handvoll dichter ist übriggeblieben
in der früh werfen sie verse ins wasser
lang
beobachten sie die konzentrischen kreise
vom kiesweg knirschen schritte
stimmen
der see könnte ein see sein
oder eine sure aus dem koran
ein ganzes volk von narzissen stirbt nicht freiwillig
ein loch im schuh des dalai lama vom vielen streben nach nichts
tätowierer sind die wahren entdeckungsreisenden
auf deiner haut
sprich mit ihnen
meinetwegen auch ungarisch
jahrestage sucht man nicht aus
ich muß für mein leeres Zimmer Blumen stehlen,
denn mein Schutzengel kommt zu mir zum Abendessen.
(Christoph Meckel: Tarnkappe, Gedichte, München 1956)
jahrestage sucht man nicht aus
das leben gibt sie vor
das sterben
die schnee-eulen beräumen die städte und landschaften
befreien sie
vom müll und schutt ganzer zivilisationen
ein asphaltrest eine ackerkrume
ein vers
nichts bleibt mehr übrig
die weltwinde versammeln sich
auf den gräbern vergessener dichter
findlinge toteis
stimmen
markieren die stellen
wo einst meropsvögel die häuser bewohnten
nachtfalter die täler
noch ist der himmel voll vom staub ihrer schwingen
noch einen ganzen winter lang
lichter heben an
machen sich auf aus den unterirdischen labyrinthen der grabkammern
steigen mit zwergen an ihrer seite
zurück auf die erde
die finsternis zu vertreiben welche die flüsse mitbrachten
von einer langen reise durch das land der gedichte
[wenn ich sie lese
fließt mit ihnen
eine tonspur]
[geschrieben für den 29. Januar 2021, Waldkirch]