2020
borgo
Offene Literatur - Jubiläums-Anthologie
Lyrik der Gegenwart 96, Edition Art Science / AG Literatur, St. Wolfgang (ISBN 978-3-903335-11-0)
ein haus eine frau ein kind ein haus
und in den bergen vergraben wir gold
wir haben die städte der toten bewohnt
sind ihren spuren gefolgt durch die leeren straßen
aus entkernten häusern schauten uns hohle augen an
in die gebirge ziehen die blicke der gebückten
leibeigenen die über grate wandern und zeit
wir haben die städte der toten ausgegraben
eine archäologie früherer mühen freigelegt
und der eigenen unzulänglichkeiten
die toten sollten uns lehren stattdessen
haben sie uns angst gemacht
ihre stimmen kommen zu uns herüber
berichten aus den städten der lebenden
die sie bewohnt haben
deren spuren sie gefolgt sind
aus deren häuser augen schauten
wanderer über grate und zeit waren sie
wir haben in den städten der toten uns selbst gesehen
unsere spuren passten genau in ihre
da blieb keine zeit mehr keine zeit mehr [übrig]
seidenstraße virtuell
die minzehändler in ihren cabriolets bringen die einnahmen
eines ganzen jahres ins land des sonnenaufgangs
von karawanserei zu karawanserei bei jeder ein motel
mit minztee und mädchen in safrankleidern
kardamom und weihrauch würzige kräuter
auch opium gegen die schmerzen und für das vergessen
von zeit zu zeit ziehen heilige krieger auf kamelen
durch heilige kriegsgebiete
auf den bergkuppen flakgeschütze luftabwehr
raketen im schatten des halbmonds
unterwegs in den dörferm sprechen die menschen farsi
ein paar mandarin
und eine alte weise sanskrit
die minzehändler lachen trinken
vergnügen sich mit den mädchen
das geld wird weniger
wie das benzin in den tanks der staubigen cabriolets
nocturne | baltisch
in den abend
öffnet sich das land in einem u-bahnschacht
flattert die stadt
in die nacht
das fahle grau der lichter
im bunt der häuser
als nähmen diese jenen die farben
wir gehen hand in hand
ein paar schritte weiter
sammelt einer verlorene einkaufszettel
und gedichte die der wind wieder fallen ließ
wie die letzten blätter des letzten herbstes
auf den kalten asphalt
emporgehoben grau
in unsere bunten stimmen
mischen sich schon die ersten wintertage
und deine wangen glühen zittern
mit jedem wort das wir weitergehen von vers zu vers
[das meer ist nicht der hüter des schnees]
milch rinnt über die haut
abend der partisanen | kebec
Wir sind begeistert von Quebec, aber Edward will es nicht malen, also fahren wir morgen weiter.
(Josephine „Jo“ Verstille Hopper, geb. Nivison, in einem Brief vom 24. Juni 1933)
abend der partisanen
die nachbarn schlafen mit faltern
lautlos stößt das meer die tür auf
und schwemmt leguane ins zimmer
flugzeuge
halbwahrheiten
tommaso ist endlich eingeschlafen
ich schreibe wieder mit dem bleistift
ich esse wieder mit den fingern
ich liebe wieder junge mädchen
der held schlägt sich gegen die brust
noch ganz aufgewühlt von den wirren des krieges
aus dem er gerade zurückgekehrt ist
vom meer rufen stimmen
von den bergen rufen stimmen
vom fluss und aus den wäldern
den ebenen
den vorlanden schwebender städte
ich verwechsle schon ihre namen
elena!
öffne die fenster
lass die fledermausschreie ins haus
ich will sie begleiten
tanze zum fidelspiel
der mond nimmt dich in den arm
erdrückt dich mit seinem dicken bauch
der mond singt ein wiegenlied
für dein ungeborenes kind
in seinem licht zittert das gras
[abend der partisanen
die nachbarn schlafen mit faltern
im fließen der stille
wo der fluss enger wird]
vogelmenschen sprechen armenisch
Es sind die Toten, die den Lebenden die Augen öffnen.
(aus Katerina Poladjan: Hier sind Löwen. Roman, Frankfurt a.M., 2019)
kaukasische verse strömen durch unseren garten
wir zählten walnüsse mandeln aprikosen
häuften wir zu seltenen erinnerungen gefühlen
die uns überkamen beim anblick von ausgetrockneten flussbetten
nur an den quellen in den bergen
führten die flüsse wasser in den weiten ebenen
den städten fielen sie trocken
zählten wir granatapfelkerne am himmel flugzeuge
häuften wir zu stimmen unserer ahnen
erzählten sie von kämpfen kriegen
flüsterten vom meer
dem die flüsse kein wasser brachten sondern leid
säumten walnuss mandel aprikosenbäume die straßen
als wir hinaus fuhren aus der stadt in die dörfer
sangen die gräser traurige lieder
weinten die mönchsgrasmücken die trauermäntel mit ihnen
stimmten wir ein in gesänge aus einer alten zeit
der wind ging kalt
durch die wälder zogen manifeste
minenräumkommandos
suchende findende blicke von liebespaaren
die sich trafen unter den zweigen der wilden aprikosen
das wetter war wie geschaffen für vogelmenschen
für das korn auf den feldern das sich wiegte
in unseren armen
die wir ausbreiteten zu flügeln
über landschaften flogen vergangenheiten
wir lagen nebeneinander
unsere federkleider raschelten bei jeder berührung
nachdem der regen aufgehört hatte
erhoben wir uns schritten majestätisch
in die richtung von schmerzen dass sie uns schützten
in der ferne erschien der ararat im schnee
manchmal träume ich davon
dass noah am ararat vorbei fährt
auf der suche nach einem besseren platz
harmonielehre
wenn die zwerge in den bergwerken
das gold gefunden
den klangstein geschlagen haben werden
wenn die löwenmenschen über die highways
zu den autobahnrasthöfen gefahren
die vogelmenschen mit den airlines
die himmelsleiter herunter gestiegen sein werden
wachsen brennesseln mit stacheldrähten um die wette
kehren kindheitserinnerungen an verwandte wieder
die schon lange nicht mehr leben an die eltern
die wiedergestorbenen
das große buch der fragen
deine hände bluten von der kälte
platzen frostbeulen auf
mitten hinein in ein zweites leben
an einem anderen tag
sprich leiser
versteck dich
hängt die wäsche noch im wind
niemand hat sie abgehängt und ins haus gebracht
niemand hat sie gewaschen und aufgehängt
deine hände zittern vor krämpfen
verschweig nicht die schmerzen
an jenem tag
häuten sich die sünden ein letztes mal
rauch steigt auf
von einer zigarette oder einem krematorium
[wir sprechen mit blumen und gießen
sie aus mit wachs
deine hände brennen
ich möchte die städte streicheln
als liebte ich sie
deine brüste brennen
ich möchte die bettler küssen
als hörte ich ihre stimmen
in einem untergegangenen schiff]
antigone
gestern beim spazieren am rande des parks
traf ich antigone
sie war klein hatte dunkle augen und dunkles haar
erdige hände
ihr vater der unweit auf einer bank saß
rief sie zu sich
als ich weiter ging
lag da ihr halb verwester bruder
ein erdloch und erdhaufen neben ihm
auf der großen wiese zwischen schloss und teich
tummelten sich reitersoldaten
die pferdehufe trommelten zum letzten angriff
heute morgen schlich ich mich zurück an den rand des parks
auf der suche nach antigone
ich wartete sehr lange aber sie kam nicht
auch ihr bruder war verschwunden
sein grab
und das ganze reiterheer
auf einem werbeplakat in der stadt
sah ich ein mädchen mit dunklen augen und dunklem haar
das antigone glich
stoßwellenmetamorphose |
die verschleierung von gedichten
in meinem nächsten leben werde ich virologe
oder eisenwarenhändler
seit langem schwebt mir ein portfolio für eisenwarenhändler vor
[ein portfolio für virologen?
nein!]
an welchem schöpfungstag [oder war es in der nacht?]
erschuf gott die viren
wir ziehen weiter
unseren gedichteherden hinterher
auf der suche nach neuen weidegründen
[ich kenne keine andere
keine bessere!
lebensform als die lyrik]
grasgebete auf den lippen
an die welt will ich mich verschwenden
sie aus ihren kleidern schälen
bis sie nackt vor mir steht
an ihrem geschlecht will ich mich laben
mich daran reiben dass es anschwillt vor lust
in die dunklen tiefen will ich vordringen
bis zum stein
will ich vergehen zwischen ölbäumen vor der ernte
zehn verse für mohammed zehn verse für moses
irgendetwas gibt es immer
das man nicht mehr erlebt
olympische spiele zum beispiel
die entwicklung eines neuen automobils
ein gutes gedicht
über toteis und permafrost
auch eine liebe vergeht
ich lese wolkenbilder
warum konnten wir nicht zusammen alt werden
mit den moränen
ich sammle sätze
ich lese wolkenbilder
ich hüte permafrost
ich gehe über toteis
ich schwimme in einem felsenmeer
deine schultern tragen brennende verse
nachts betten wir uns auf moränen
der himmel legt uns sterne auf die stirn
wir warten auf akazientage
in deinen händen hältst du wind
das alte paris
und wenn der asphalt weich wäre und weiß
oder wenigstens hellblau
würde ich ein himmelbett aus ihm bauen
auf ein auto bettete ich mein haupt
und in einem der prächtigen boulevards
suchte ich mir einen mann
den zweitbesten der vorüber käme
alle bewohner der stadt wären eingeladen zu unserer hochzeit
die grillen zirpten
und ein opernchor sänge arbeiterlieder
am seineufer lägen die liebespaare
wir badeten nackt
und eine gesandtschaft aus der seniorenwohnanlage
summte alte schlager
im ersten saal der städtischen kunstgalerie
stellen sie steinkohlenteer aus
im zweiten abgeschlagenen asphalt
und im dritten saal läuft ein videofilm
über straßenbau um die jahrhundertwende
auf der place vendôme steht ein riesiges himmelbett
„… verse näher an sich heranlassen …“
für Christoph Meckel (* 12. Juni 1935, † 29. Januar 2020)
wir halten die wasser an
den wind
wir halten den schnee an
wir unterbrechen die blutspur des pumas in den bergen
wir folgen dem formationsflug der kraniche
auf der gekräuselten wasseroberfläche eines fremden meeres
wir lauschen dem surren eines immenvogels
im kelch einer glockenblume
sie läutet den frühling den herbst
im sommer ruht sie sich aus
wir stimmen ein in die wintergesänge
die uns wecken aus unserem letzten schlaf
zwischen fischen
kastanien akazien
in deren schatten sie sich sonnen
mit dem durchdringenden licht der poesie
wir heben an zu einem abschied
am grab eines unbekannten poeten
geben ihm steine mit auf die reise
damit sie leichter wird für ihn
[geschrieben am 31. Januar 2020, Freiburg-Herdern]
ramstein und gomorrha
nur ein rauschen
hören wir nur ein rauschen
des windes in den blättern der bäume
des baches unter den bäumen
des regens in den bäumen
und im bach
ein rauschen des alls
sonst nichts
es ist nacht [15. Oktober, 01:09 uhr]
die toten haben sich abermals schlafen gelegt